Griechenland

Sisyphos, Tantalos und ein Gefangenendilemma

Wenn sich die europäische Politik nicht erheblich ändert, wird Griechenland früher oder später den Euroraum verlassen müssen – die Frage ist nur wann und wie. Ein Kommentar von Frances Coppola.

Griechenland-Verhandlungen: Die europäischen Gläubiger haben definitiv die beste Hand.  Foto: Travis Wise via Flickr (CC BY 2.0)

Sollte Griechenland den Euro verlassen? Das war der Titel der Oxford-Debatte auf dem diesjährigen Prague Summit, an der ich am Dienstag teilnehmen durfte.

Aber das ist die falsche Frage. Wenn sich die europäische Politik nicht erheblich verändert, wird Griechenland am Ende den Euroraum verlassen. Die Frage ist nur wann und wie.

Um das zu verstehen, müssen wir uns die Motivationen aller Verhandlungsteilnehmer anschauen. Die Griechenland-Verhandlungen gleichen einem „Gefangenendilemma“, bei dem das beste Ergebnis für alle Beteiligten durch Kooperation erreicht werden würde, aber die Teilnehmer sich gegenseitig nicht ausreichend vertrauen. Spiele sind fundamental psychologisch, und ihre Ergebnisse werden oftmals durch unausgesprochene oder sogar unbewusste Faktoren bestimmt.

Im Fall der Griechenland-Verhandlungen sind Misstrauen und Eigeninteressen an der Tagesordnung – trotz der kooperativen Rhetorik im letzten Memorandum of Understanding. In einer solchen Situation ist eine echte Kooperation unmöglich – und das finale Ergebnis muss für alle Spieler negativ sein.

Schauen wir uns die einzelnen Spieler einmal der Reihe nach an:

Griechenland

Griechenlands Versuche, das „Felskanten“-Spiel zu spielen („komm schon, stoß mich“) fiel der Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras im letzten Jahr auf die Füße, als der Europäische Rat den Bluff aufdeckte. Das Wesen des Felskanten-Spiels besteht darin, dass der Spieler am Rand der Klippe darauf vorbereitet sein muss, tatsächlich heruntergestoßen zu werden – ansonsten ist die psychologische Barriere für die anderen Spieler („wenn du ihn herunterstößt, bis du ein Mörder“) nicht glaubwürdig.

Aber als der Europäische Rat tatsächlich damit gedroht hatte, Griechenland in den Abgrund zu stoßen („akzeptiert unsere Bedingungen oder verlasst den Euro“), machte Griechenland einen Rückzieher. Nach einer langen und schmerzhaften Verhandlungsnacht akzeptierte Tsipras schließlich die Bedingungen des Europäischen Rates. Seitdem hat Griechenland allem zugestimmt, was die Institutionen verlangt haben. Allem, wirklich allem, egal wie unvernünftig es war.

Nach dem Desaster beim Felskanten-Spiel versucht Griechenland nun zu kooperieren, offensichtlich in der Hoffnung, irgendwann einen Schuldenerlass zu bekommen, begleitet von einer Entspannung der monetären Lage und der Rückkehr der Investoren. Das ist ein ziemliches Glücksspiel – aber weil Griechenland nicht aus dem Euro austreten will, hat es keine Alternative. Das ist eine ziemlich schwache Verhandlungsposition.

Die europäischen Gläubiger (angeführt von Deutschland)

Trotz ihres Namens repräsentiert die Eurogruppe im Wesentlichen die europäischen Gläubiger, da ihre Mitglieder die Finanzminister der Eurostaaten sind. Sie wollen ihr Geld zurück. Und zwar jeden Cent. Ihr alleiniges Ziel in diesem Spiel ist es, die volle Rückzahlung zu erreichen. Sie haben kein Interesse daran, der griechischen Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen, außer es hilft ihnen dabei, mehr Geld herauszuziehen.

Die europäischen Gläubiger wissen, dass sie jede x-beliebige Forderung stellen können – Griechenland wird sich schon fügen

Seit dem Sieg beim Felskanten-Spiel sind sie psychologisch in der Oberhand – die europäischen Gläubiger wissen, dass Griechenland nicht das Risiko eingeht, aus dem Euro gedrängt zu werden, und daher können sie jede x-beliebige Forderung stellen, denn Griechenland wird sich fügen. Die Gläubiger können nicht verlieren, solange nicht etwas vollkommen Unvorhergesehenes passiert.

Die Europäische Kommission

Aber da gibt es natürlich noch die Europäische Kommission. Ist sie vielleicht an einem Ergebnis interessiert, von dem alle profitieren würden, inklusive Griechenland?

Nicht wirklich. Die Kommission fördert das Ziel der Europäischen Integration. Da das Ausscheiden eines Staates aus der Eurozone (mindestens) ein Rückschritt wäre und es ein nicht unerhebliches Risiko gibt, dass weitere Staaten folgen könnten, bedeutet die Förderung der weiteren Integration in diesem Fall, alles zu tun, um Griechenland im Euro zu halten. Und wenn dafür erforderlich ist, die Gläubiger glücklich zu machen, wird sich die EU-Kommission auf ihre Seite schlagen.

Eines der fundamentalen Probleme des Euros ist die Schwäche seiner Institutionen gegenüber den nationalen Regierungen

Natürlich ist es für eine vermeintlich neutrale Institution eine ziemlich schlechte politische Botschaft, offenkundig die Interessen nur einer Partei zu vertreten. Daher könnte die Kommission versuchen, die Gläubiger in Richtung eines etwas sanfteren Ansatzes zu drängen. Aber wenn die Gläubiger darauf keine Lust haben, wird die Kommission nachgeben, was sie wiederum selbst schwach aussehen ließe. Somit befindet sich die EU-Kommission ebenfalls in einer sehr schwachen Verhandlungsposition. Tatsächlich ist die Schwäche der Kommission sehr bezeichnend – denn eines der fundamentalen Probleme des Euros ist die Schwäche seiner Institutionen gegenüber den Regierungen der Nationalstaaten.

Die Europäische Zentralbank

Aber Moment mal – was ist denn mit der Europäischen Zentralbank? Sie ist doch mit Sicherheit eine mächtige Institution der Eurozone?

Nein. Die EZB ist bei weitem die schwächste aller großen Zentralbanken. Trotz ihrer angeblichen Unabhängigkeit und des Schutzes vor politischer Einflussnahme ist sie durch die Verträge eingezäunt und muss jede Menge politische und juristische Angriffe aushalten. Sie wurde dazu gezwungen, eine politische Rolle zu spielen, die sie nicht hätte einnehmen sollen. In diesem Spiel versucht die EZB (was ihr meistens nicht gelingt) außerhalb des Rampenlichts zu stehen und den Schein der politischen Neutralität zu wahren.

Ihr Primärziel besteht darin, die Eurozone zusammenzuhalten. Da ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro nicht quantifizierbare Risiken für die Finanzstabilität und die Integrität der Eurozone bedeuten würde, möchte die EZB nicht, dass es zum Grexit kommt. Sie wird alles tun, was nötig ist, um Griechenland dazu zu zwingen, den Forderungen der Gläubiger nachzukommen.

Der Berg der „Strukturreformen“

Es sollte bis hier hin offensichtlich geworden sein, dass die Dimension dieses Spiel ein ungesundes Gleichgewicht erreicht hat. Griechenland ist in der Rolle des Sisyphos gefangen, der ewig einen Felsblock den Berg der „Strukturreformen“ hinaufrollen muss, nur damit dieser wieder herunterrollt, weil Sisyphos es nicht schafft, seine Haushaltsziele zu erreichen oder die Gläubiger weitere Forderungen stellen. Oder vielleicht nimmt Griechenland auch die Rolle des Tantalos ein, der sich auf ewig nach dem Wasser des Schuldenerlasses bückt, nur damit dieser dann immer wieder aus seiner Reichweite gezogen wird. Diese Perpetuum Mobile-Mythen sind sehr beschreibend für die psychologischen Fallen, die die mächtigeren Spieler aufgestellt haben, um das Spiel am Laufen zu halten.

Wenn der Euro langfristig überleben soll, muss das politische Machtungleichgewicht korrigiert werden

Das ist nicht nur für Griechenland ein Problem: Jedes Schuldnerland ist potenziell in der gleichen Situation. Eine solch toxische Spielführung verheißt nichts Gutes für die langfristige Zukunft der Eurozone. Sisyphos und Tantalos wurden für alle Ewigkeit bestraft, weil sie die Götter beleidigten. Aber die Eurozone ist eine menschliche Konstruktion: der politische Druck, der durch dieses Machtungleichgewicht entsteht, wird sie letztlich auseinanderreißen. Wenn der Euro langfristig überleben soll, muss dieses Ungleichgewicht korrigiert werden.

Die Eurozone muss dringend ihre Institutionen gegen die Nationalstaaten stärken und Verfahren für den Umgang mit Staatsinsolvenzen und für die Verteilung von Verlusten sowohl für öffentliche als auch für private Gläubiger einführen. Aber da diese Reformen nicht den Interessen der Gläubigerländer dienen würden, erscheint es ziemlich unwahrscheinlich, dass es sie jemals geben wird. Daher wird der Euro mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit scheitern.

Der Internationale Währungsfonds

Es gibt mit dem Internationalen Währungsfonds noch einen weiteren Spieler in diesem toxischen Spiel. Man muss dem IWF gutschreiben, dass er versucht hat, eine Lösung zu erzwingen. Jeder weiß, dass die griechischen Staatsschulden nicht tragfähig sind, aber es passt den europäischen Spielern ins Konzept, so zu tun, als wenn sie tragfähig werden könnten, wenn Griechenland nur genug „Reformen“ machen würde. Es ist diese Scheinheiligkeit, die Griechenland in der Rolle des Sisyphos gefangen hält und einen Schuldenerlass außer Reichweite hält. Aber das ist ebenfalls ein Bluff, und der IWF hat ihn aufgedeckt.

Allerdings ist der IWF selbst ein Gläubiger – und zwar ein ziemlich teurer. Und wie die anderen Gläubiger auch will er sein Geld zurück. Daher ist es wenig überraschend, dass die IWF-Forderung, die anderen Gläubiger sollten Verluste akzeptieren, während der Währungsfonds selbst dazu nicht bereit ist, nicht sonderlich gut ankam. Die europäischen Gläubiger verwarfen die Beurteilung des IWF, nach der die an Griechenland gestellten Forderungen unmöglich zu erfüllen sind und Griechenland letztlich seine Schulden nicht vollständig bedienen wird.

Die Europäer verwiesen auf die früheren kläglichen Prognosefehler des IWF und wiederholten ihre Beteuerung, dass die griechischen Schulden durch Strukturreformen schon wieder tragfähig gemacht werden könnten. Dann streuten sie noch mehr Salz in die Wunde, indem sie anboten, die IWF-Kredite zu niedrigeren Zinsen zu refinanzieren, als sie der IWF bisher verlangt. Aua.

Sisyphos und Tantalos können nicht ewig leben

Die Wahrheit ist, dass es in diesen Verhandlungen keinen unabhängigen Schiedsrichter gibt und es eine massive institutionelle Parteilichkeit zugunsten der Gläubiger gibt. Ja, das letzte Memorandum of Understanding (MoU) beinhaltet einige vernünftige Reformen: Aber das alles andere überlagernde Ziel besteht darin, einen dauerhaften Primärüberschuss von 3,5% zu konstruieren, der nötig wäre, um Griechenlands Schulden ohne Schuldenerlass tragfähig zu machen. Das MoU erlegt einer Volkswirtschaft, die bereits um 27% geschrumpft ist und sich erneut in der Rezession befindet, eine Straffung der Haushaltsausgaben in Höhe von 3% der Wirtschaftsleistung auf.

Um das IWF-Argument zu kontern, nach dem das 3,5%-Ziel weder erstrebenswert noch nachhaltig sei, beinhaltet das MoU auch noch eine zusätzliche eventuelle Straffung um 2% durch nicht genauer genannte Ausgabenkürzungen und Steuererhebungen, wenn Griechenland es nicht schaffen sollte, das Ziel für den Primärüberschuss zu erreichen. Die Behauptungen, dass Griechenland die interne Abwertung „abgeschlossen“ habe, sind eindeutig falsch. Die griechischen Preise und Einkommen müssten noch viel weiter fallen.

Solange dies alles eine interne Angelegenheit der Eurozone bleibt und der IWF nur mit von der Partie ist, weil die europäischen Gläubiger der EU-Kommission nicht zutrauen, dass sie ihre Interessen vertreten wird (und die Kommission selbst durch parteiische Interessen erheblich geschwächt ist), kann es für dieses Spiel keine kooperative Lösung geben. Aber je länger es andauert, desto schlimmer wird der Ausgang sein – nicht nur für Griechenland, sondern auch für alle anderen Spieler. Ein ungeregeltes Auseinanderbrechen des Euro, das möglicherweise neben Griechenland auch noch andere Länder beinhaltet, wäre für jeden furchtbar. Aber solange es keine veränderte politische Haltung gibt, wird genau dies letztlich passieren.

Die europäischen Gläubiger werden solange keinen Schuldenerlass anbieten, bis sie nicht mit der glaubwürdigen Drohung konfrontiert sind, noch mehr von ihrem Geld zu verlieren. Und sie werden es Griechenland kaum erlauben, seine in öffentlicher Hand befindlichen Schulden nicht zu bedienen und dennoch im Euro zu bleiben. Solange es also keine Aussicht gibt, dass Griechenland die Eurozone verlässt, wird es auch keinen Schuldenerlass geben. Weil Sisyphos und Tantalos in unserer menschlichen Welt aber nicht ewig existieren können, wird Griechenland eines Tages seine Schulden nicht mehr bedienen und aus der Eurozone ausscheiden – ob es das nun will oder nicht.

 

Zur Autorin:

Frances Coppola arbeitete 17 Jahre lang als Analystin und Projektmanagerin für verschiedene Banken. Mittlerweile ist sie eine renommierte Kolumnistin in zahlreichen internationalen Zeitungen, darunter die Financial Times und der Economist. Außerdem bloggt sie auf Coppola Comment, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist.