Matteo Renzi hat in den letzten Monaten ziemlich deutliche Kritik am aktuellen Zustand der Europäischen Union geäußert. Im Dezember kritisierte der italienischer Premierminister die deutsche Kanzlerin Angela Merkel dafür, dass sie die gemeinsame europäische Einlagensicherung nicht mittragen wollte. Im Februar griff er die deutsche Entscheidung, den Ausbau der nördlichen Gaspipeline aus Russland nicht weiterzuführen, heftig an.
In der Zwischenzeit begann er außerdem einen Streit mit Jean-Claude Juncker, weil der EU-Kommissionspräsident sich gegen Italiens Antrag stemmte, temporär die Defizit-Grenzen überschreiten zu dürfen, um Strukturreformen auf den Weg zu bringen und die Flüchtlingskrise zu bewältigen. In einem zu Jahresbeginn im Guardian veröffentlichtem Brief schrieb Renzi, dass „Europa für diese Generation nicht funktioniert“.
Viele Experten befürchten, dass dieses Verhalten eine populistische Reaktion auf die wachsende italienische Desillusionierung gegenüber dem Europäischen Projekt ist. Allerdings muss Renzis Strategie vielmehr als Teil eines viel komplexeren politischen Spiels verstanden werden.
Italien und Europa
Italiens Unzufriedenheit mit Europa ist ein relativ neues Phänomen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgten die Hoffnungen auf Frieden und Wohlstand für eine sehr optimistische Einstellung gegenüber den europäischen Werten. Die italienischen Spitzenpolitiker der Nachkriegszeit machten das Land 1951 zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS bzw. „Montanunion“). Auch bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahr 1957 zählte Italien zu den Erstunterzeichnern.
Italiens starker Einsatz in EGKS und EWG war definiert durch die Auffassung, das ein vereinigtes Europa ein Wundermittel gegen die ökonomische, soziale und politische Instabilität des Landes wäre. Nachfolgende italienische Repräsentanten haben immer wieder stolz das „europäische Schicksal“ des Landes verteidigt: Die italienischen politischen Eliten hatten sehr wohl verstanden, dass Italien ein europäisches Land sein musste.
Die Entscheidung, dem Euro beizutreten, war für diese Sichtweise ein entscheidender Moment. Sie fiel anfangs der 90er Jahre – nach zwei Jahrzehnten nicht nachhaltiger Ausgabenpolitik, die darauf angelegt war, die sozialen Unruhen der 60er und 70er durch Inflation zu besänftigen. Als ausländische Investoren Mitte der 80er Jahre begannen, zunehmende Anteile der öffentlichen Schulden aufzukaufen, entfesselten sie eine Spekulation gegen die italienische Lira und verursachten eine heftige Abwertung.
Der Höhepunkt der Krise war 1992, als das als „Erste Republik“ bekannte politische System in der Folge einer Serie von Korruptionsskandalen in sich zusammenbrach. Zu dieser Zeit trafen die Aufgabe der Lira und der schwierige Weg zur Euro-Mitgliedschaft mit der Konstruktion eines nationalen Imperatives zusammen: (ri)entrare in Europa.
In einem viel zitierten Papier argumentierten Kenneth Dyson und Kevin Featherstone, dass der „vincolo esterno“ der Europäischen Währungsunion tiefgreifende Auswirkungen auf die politischen Präferenzen des Landes hatte: Je weniger Italiener ihrer eigenen Regierung und ihrer Währung trauten, desto stärker billigten sie den Transfer von wichtigen Zuständigkeiten nach Brüssel.
Die jährlichen Eurobarometer-Umfragen bestätigten, dass die Italiener sehr euphorisch bejahten, ein Teil einer supranationalen politischen und ökonomischen Organisation zu sein: In den 90er Jahren verzeichnete das Land kontinuierlich mit das höchste Maß an Vertrauen in die EU. Es war eine Bestätigung, dass die Italiener sich ihr europäisches Schicksal zu eigen machten: Das Land war sicherlich wichtig für Europa, aber Europa war noch wichtiger für Italien selbst.
Allerdings hat sich herausgestellt, dass die Annahme der neuen Währung den Enthusiasmus für dieses europäische Schicksal geschwächt hat. Dies war erstmals zu Beginn der 2000er Jahre zu beobachten, als Italien in eine Rezession fiel und der Euro für seine Rigidität kritisiert wurde.
Obwohl die Lira eine zweistellige Inflation gebracht hatte, unterstützte ihre stetige Abwertung die Exporte des Landes und half der Regierung, ihre Schulden zurückzuzahlen. Tatsächlich wird weithin anerkannt, dass Italiens ökonomische Schwäche der Einführung des Euros vorausging – aber es war die neue Währung, die die fehlende Nachhaltigkeit der hohen Schulden, des niedrigen Wachstums und des ineffizienten öffentlichen Sektors im Kontext der strengen und rigiden europäischen Politik ans Tageslicht gebracht hat.
In den letzten Jahren haben mehr und mehr Italiener das Gefühl kultiviert, verraten worden zu sein: Sie hatten erwartet, dass die Teilnahme am europäischen Währungssystem ihre Lebensstandards erhöhen würde. Stattdessen fanden sie sich in einer „triple-dip“-Rezession wieder.
Die Eurobarometer-Umfragen spiegeln diesen Meinungsumschwung wider: 2006 fühlten sich gerade einmal 32% der Italiener nur sehr wenig oder gar nicht mit der EU verbunden: Bis 2014 ist die Zahl auf 57% gestiegen.
Der Aufstieg der italienischen Euroskepsis
Politische Unternehmer haben versucht, aus dieser Unzufriedenheit Kapital zu schlagen. Bei der letzten Wahl im Jahr 2013 wurde die Anti-Euro-Stimmung durch den Erfolg von Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung angeheizt. Sie erhielt 25% der Stimmen, unter anderem wegen ihres Vorschlags, ein Referendum über die italienische Euromitgliedschaft abzuhalten. In der selben politischen Kampagne halfen dem früheren Premierminister Silvio Berlusconi markige Angriffe auf die deutsche Sparpolitik dabei, ein überraschendes Comeback zu schaffen. Der Erfolg dieser Parteien zwang Renzis Demokratische Partei in eine nicht gerade einfache Allianz mit einigen von Italiens konservativen Kräften.
Tatsächlich ist der Druck der euroskeptischen Wettbewerber einer der zugrundeliegenden Faktoren von Renzis kritischer Einstellung gegenüber der aktuellen Brüsseler Politik. Einen Tag nach den Wahlen in Spanien, bei denen Premierminister Mariano Rajoy seine Parlamentsmehrheit verlor, sagte Renzi in einem Interview mit der Financial Times: „Ich weiß nicht, was mit meinem Freund Mariano passieren wird. Aber ich weiß, dass diejenigen, die an vorderster Front die treuen Verbündeten einer Politik der Strenge ohne Wachstum waren, ihre Jobs verloren haben.“
Einige politische Analysten haben argumentiert, dass Renzis europäische Zankereien im Wesentlichen eine außenpolitische Dimension seiner innenpolitischen Strategie wären. Das ist aber nur ein Teil des Bildes, denn es berücksichtigt nicht das andere Spiel, das Renzi am europäischen Tisch spielt. In Brüssel hat der italienische Premierminister immer wieder betont, dass Europa die Lösung für viele italienische Mängel bleibt. Und er war sehr darauf erpicht, diese Zusage zu demonstrieren, manchmal mit hochsymbolischen Gesten.
So flog er beispielsweise im Januar, einen Tag nach einem angespannten Treffen mit Angela Merkel, mit dem Helikopter über das Tyrrhenische Meer, um die kleinen Inseln Ventotene und Santo Stefano zu besuchen. Er legte Blumen am Grabmal des italienischen Anti-Faschisten Altiero Spinelli nieder, der am „Ventotene Manifesto“ für ein föderales Europa mitgeschrieben hatte. Danach besuchte Renzi ein früheres Gefängnis auf Santo Stefano, das mittels einer 80 Millionen Euro schweren Finanzierung aus Rom in eine Schule für zukünftige EU-Politiker umgebaut werden soll.
Das war natürlich eine hochgradig symbolische Aktion. Aber es gibt mehr als diesen reinen Symbolismus – tatsächlich hat Renzi sehr konkrete Gründe, um eine positivere italienische Haltung gegenüber Brüssel zu signalisieren: Bei einer Staatsschuldenquote von 132,5% des BIP ist sein haushaltspolitischer Spielraum begrenzt und er fühlt sich nicht in der Lage, die Steuern zu erhöhen, wie er mit entwaffnender Offenheit kürzlich bei einer Konferenz an der Harvard University einräumte: „Die Menschen werden uns töten – und die Menschen haben Recht.“
Sein Argument lautet, dass Italien nicht mit dem aktuellen ökonomischen Modell klarkommt, wenn es nicht mehr Spielräume erhält – und sein Ziel ist es, die EU an dieser Stelle flexibler zu machen.
Renzis europäische Strategie
Dieses Ziel muss im Kontext eines sich sehr schnell verändernden Ansatzes in Brüssel gesehen werden. Renzi kann eine starke Hand spielen, insbesondere seitdem seine Partei bei den Europawahlen von 2014 einen Erdrutschsieg eingefahren hatte. Die Demokratische Partei stellt nach Angela Merkels CDU/CSU die zweitgrößte Delegation im Europäischen Parlament. Das bedeutet ein enormes politisches Kapital just zu einem Zeitpunkt, an dem die europäischen Institutionen mehr und mehr politisiert werden.
Mit der Wahl der Juncker-Kommission hat sich der im Berlaymont herumsitzende Staatsdiener in etwas verwandelt, was Sergio Fabbrini einen „politischen Operator“ nennt: Alos in jemanden, der eine parteipolitische Agenda verfolgt, anstatt einfach nur eine technokratische Politik umzusetzen. Diese Transformation des Kommissionspräsidenten verändert auch die Natur seiner Beziehung zu den nationalen Regierungschefs: Wenn die Kommission politisiert wird, müssen die Regierungen darauf reagieren. Und in welche Richtung kann sich ein von der deutschen Führung desillusioniertes Europa in dieser zunehmend politischen Umgebung entwickeln?
Großbritannien hat sich freiwillig ausgeschlossen, Spanien kann nicht einmal eine Regierung formen und Frankreichs Außenpolitik wird von Präsident Francois Hollandes Schwäche untergraben. In diesem Vakuum bleibt die italienische Regierung das einzige Gegengewicht zu Deutschland, einem Land, das seine nationalen Interessen in eine größere europäische Mission übertragen hat.
Harold Macmillan hat einmal gesagt, das Charles de Gaulle “von Europa redet und Frankreich meint“. Das gleiche Gefühl drücken Europas Regierungschefs nun hinter vorgehaltener Hand gegenüber Angela Merkel aus.
Und genau wie ihr italienischer Gegenpart wird Merkel von ihren innenpolitischen Gegebenheiten konditioniert. Genau wie Renzi das Wachstum wiederbeleben will, um populistische Bewegungen zu kontern, braucht Merkel eine schnelle Lösung für die große Zahl an Flüchtlingen, die während der momentanen Krise in Deutschland angekommen sind. Unterm Strich sind beide Regierungschefs besorgt um die Funktionsfähigkeit der EU-Institutionen – aber sie haben grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen von den Aufgaben, die diese Institutionen erledigen sollten.
Man darf nicht vergessen, dass Renzi und Merkel diametral gegensätzliche Erfahrungen mit den Auswirkungen des europäischen Einigungsprozesses auf das Schicksal ihrer Länder gemacht haben. Die Kanzlerin ist in der während des Kalten Kriegs hochgradig benachteiligten DDR aufgewachsen, sie hält an dem Diktum „keine Schulden machen, nichts ausgeben“ fest. Im Gegensatz dazu ist Renzi in einem Land aufgewachsen, in dem die öffentliche Ausgabenpolitik einen Flickenteppich aus Beschäftigung und staatlichen Subventionen geschaffen haben.
Was sein Land traditionell mit Merkel Deutschland geteilt hat, ist die Realität einer europäischen Spaltung. Das Problem liegt darin, dass sie sich heute auf den entgegengesetzten Ufern dieser Spaltung befinden.
Und das dürfte für Italien ein größeres Problem als für Deutschland sein, hauptsächlich deshalb, weil Berlin in den letzten Jahren Brüssel stärker beeinflussen konnte als Rom. Italien war für Europa schon immer wichtig, war aber nicht notwendigerweise auch einflussreich. Jetzt versucht Renzi, Italiens europäisches Schicksal in eine spezifische Mission zu verwandeln: Er will Europa ein bisschen weniger deutsch und ein bisschen mehr italienisch machen.
In der Praxis argumentieren Renzi und seine Minister für einen haushaltspolitischen Stimulus und bieten den Forderungen der EU-Kommission und der deutschen Regierung nach einer Kürzung der öffentlichen Haushalte die Stirn. Es hat schon etwas von einem Glücksspiel, einen selbstbewussten Widerstand gegen das deutsche ökonomische Dogma einzunehmen, während Italien selbst ziemlich unsicher zwischen einer Haltung pro und contra Austerität balanciert. Aber Renzi ist es aus der Heimat gewohnt, dieses Spiel zu spielen, wo er einen wendigen Zickzack-Kurs zwischen links und rechts fährt, um seine eigene Machtposition zu sichern. Es ist unmöglich vorherzusagen, ob ihm das auch auf europäischer Ebene gelingt, wo traditionell eher eine überlegtere Politik belohnt wird.
Zum Autor:
Lorenzo Piccoli forscht am Department of Political and Social Sciences des European University Institute in Florenz. Außerdem ist er für die italienische NGO Unimondo tätig.
Hinweis
Die englische Originalfassung des Textes ist zuerst erschienen auf dem EUROPP-Blog der London School of Economics and Political Science (LSE). Die Übersetzung erfolgte mit Genehmigung von EUROPP.