Seit dem Ausbrechen der Wirtschafts- und Finanzkrise, die sich nunmehr fortwährend in eine wirtschaftliche Depression auswächst, steht der Mainstream der Wirtschaftswissenschaften in ständiger Kritik. Ideologiebelastet, realitätsfern, übermathematisiert und überheblich sind nur einige der Schlagworte, die in dieser Debatte verwendet werden. Andererseits wiederum wählt der ökonomische Mainstream seinerseits ebenso harsche Worte für seine KritkerInnen. Ihnen wird Utopie, Unredlichkeit und Unwissenschaftlichkeit unterstellt.
Aber nicht nur unter Ökonominnen und Ökonomen mehrt sich die Kritik an der ökonomischen Standardlehre und Forschung. 2014 gründeten und schlossen sich verschiedene Studierendeninitativen unter dem Banner des Pluralismus zusammen, um eine größere theoretische und methodische Vielfalt in der Lehre zu fordern. Es dauerte nicht lange bis auch einige ÖkonomInnen diesen Aufruf unterstützten.
Der Zulauf zu den KritikerInnen und die damit einhergehende Breite der Bewegung führten jedoch auch zu einer wachsenden Komplexität und Unübersichtlichkeit innerhalb der Debatte. Anstatt einer Abnahme kam es zu einer Zunahme an unbeantworteten Fragen.
Was bedeutet eigentlich Pluralismus in der Ökonomie? Welchen Stellenwert und welche Rolle sollte der Mathematik in der Ökonomie beigemessen werden? Wie breit gefasst und inklusive sollte die Wirtschaftswissenschaft eigentlich sein? Welche Rolle sollte Inter- und Transdisziplinarität in Zukunft in der ökonomischen Lehre und Forschung spielen? Wie genau sehen die Anforderungsprofile an die nachwachsende Generation von ÖkonomInnen aus und welche Anforderungen ergeben sich daraus an die Lehre?
Plurale Ökonomik an der WU-Wien?
Genau dieser Schnittstelle zwischen ökonomischem Diskurs und ökonomischer Lehre widmete sich das Forschungsprojekt „Changing the world one student at a time? Uncovering subjective understandings economic’s instructures roles“. Es wurde der Frage nachgegangen, inwiefern sich der ökonomische Diskurs in der Lehre und unter den Lehrenden darstellt und welche Narrative den aktuellen Diskurs an der Wirtschaftsuniversität Wien prägen.
Ein halbes Jahr lang wurden 24 Lehrende (16 aus der Universität, 2 aus der angewandten Forschung, 4 aus öffentlichen Institutionen und 2 aus dem Bankensektor) der volkswirtschaftlichen Einführungslehrveranstaltungen an der WU Wien befragt und aufgefordert, ein Strukturlegungsverfahren, welches vornehmlich in der Psychologie Anwendung findet, durchzuführen (mittels so genannter Q-Methode).
Das Forschungsteam konnte anhand dieser Methode vier verschiedene Typen innerhalb des ökonomischen Diskurses an der Wirtschaftsuniversität Wien identifizieren:
- Die Mainstreamer,
- die moderaten Pluralisten,
- die angewandten Pluralisten und die
- verantwortungsbewussten Pluralisten.
Der Stellenwert von Abstraktion, Mathematik und Geschichte
Während Mainstreamer und moderate Pluralisten Abstraktion mittels Modellen, Mathematik und statistischer Methoden als notwendig erachten, um überhaupt transparente und nachvollziehbare wissenschaftlich Resultate erzielen zu können, argumentieren die angewandten und die verantwortungsbewussten Pluralisten mit der Verwendung vieler verschiedener theoretischer und methodischer Zugänge, um mit der Komplexität realer wirtschaftlicher Phänomene umgehen zu können.
Anhand dieser grundsätzlich unterschiedlichen Umgangsweise mit Komplexität ergibt sich auch ein anderer Zugang in der Frage der Kontextspezifität wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Während Verfechter des Mainstreams durch die rigorosen Anwendung von Abstraktion und Statistik die Möglichkeit sehen, grundlegende und generelle Erkenntnisse über ökonomische Zusammenhänge zu erzielen, betonen moderate, angewandte und verantwortungsbewusste Pluralisten die immense Bedeutung des politischen, institutionellen und historischen Kontexts. Somit können nach Ansicht der Pluralisten universell gültige Aussagen über wirtschaftliche Phänomene nur begrenzt getroffen werden. Diese Frage stellt einen der zentralen Streitpunkte zwischen Mainstreamern und Pluralisten dar.
Wer trägt gesellschaftliche Verantwortung?
Ein anderes zentrales Unterscheidungsmerkmal stellt die Frage nach gesellschaftlicher Verantwortung dar. Auch hier gibt es unterschiedliche Bezugspunkte und Deutungen innerhalb des Diskurses. Während die Mainstreamer ihren Verantwortungsbereich im alleinigen Rahmen der wissenschaftlichen Erkenntnisgenerierung sehen, argumentieren die drei pluralistischen Typen in unterschiedlich starker Ausprägung, dass ÖkonomInnen mit ihren Annahmen, Modellen und Schlussfolgerungen Verantwortung für die Auslegung und Anwendung ihrer Erkenntnisse abseits der hohen Wissenschaft haben.
Eine Reform der Lehre
Bezüglich der Ausgestaltung und Reform der ökonomischen Lehre und abseits der oben angeführten Differenzen äußerte sich eine generelle Kritik an den derzeitigen Lehrmethoden. Während die inhaltliche und methodische Ausrichtung ökonomischer Lehre umstritten bleiben, stellt die Kritik an Multiple Choice Tests, Großlehrveranstaltungen und Standardisierungen eine zentrale Gemeinsamkeit über alle Typen dar.
Hinsichtlich der Reform der Inhalte sehen die Mainstreamer keinerlei Änderungsbedarf. Die moderaten Pluralisten orten die Verantwortung über die Reform der Lehre auf der Ebene der Universität: Verantwortungsbewusste Pluralisten sehen zusätzlich auch eine individuelle Verantwortung bei den Lehrenden. Jedoch bleibt ein wesentlicher Aspekt ausgeblendet: Die Frage nach struktureller Macht über (vorgegebene) Lehrinhalte, Anforderung an neue Berufungen und die Leistungsmessung müssen aus dieser Perspektive leider unberücksichtigt bleiben.
Nichtsdestotrotz lässt sich eine Facette der Diskussion rund um eine plurale Ökonomik deutlich erkennen. Auch in dieser Debatte gibt es weder Schwarz noch Weiß. Stattdessen gibt es jede Menge unterschiedliche Schattierungen. Obwohl dies zur Unübersichtlichkeit der einzelnen Forderungen und Standpunkte beiträgt, lassen sich trotz alledem erste Ansatzpunkte für eine Reform der ökonomischen Lehre ausmachen – die Lehrmethoden. Der diesbezüglich herrschende Konsens kann somit als erstes Einfallstor für weiterreichende Reformschritte und als Anstoß zum institutionellen Wandel genutzt werden.
Zu den AutorInnen:
Michael Soder, Annika Scharbert und Katarzyna Gruszka arbeiten für das Institute for Ecological Economics der Wirtschaftsuniversität Wien.
Hinweis:
Dieser Beitrag wurde zuerst im sehr lesenswerten blog.arbeit-wirtschaft.at veröffentlicht.