Streit um Marktwirtschaftsstatus

Befinden sich die EU und China auf Kollisionskurs?

Bis Ende des Jahres muss die EU darüber entscheiden, ob sie China den Status einer Marktwirtschaft gewährt. Der Ausgang dieser Verhandlungen könnte sowohl für den europäischen Arbeitsmarkt als auch für das Welthandelssystem weitreichende Folgen haben.

Stillgelegte Stahlfabrik in Duisburg: Die europäische Stahlindustrie fürchtet die Konkurrenz aus China. Foto: Till Krech via Flickr (CC BY 2.0)

Die Zukunft der Handelsbeziehungen zwischen China und der EU wird erheblich von einer Debatte darüber beeinflusst werden, ob China in diesem Jahr den sogenannten „Marktwirtschaftsstatus“ (Market Economy Status, MES) erhält. Bisher dürfen die Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) aufgrund einer Ausnahmeregelung im WTO-Aufnahmeprotokoll China noch als eine „nicht-marktwirtschaftliche“ Volkswirtschaft behandeln. Diese 15 Jahre alte Ausnahmeregelung läuft im Dezember 2016 aus. Nach diesem Zeitpunkt müssen die WTO-Mitglieder – zumindest nach chinesischer Lesart – dem Land den MES gewähren.

Warum das so wichtig ist? Falls China den Marktwirtschaftsstatus erhält, wird es für die EU (und andere WTO-Mitglieder) wesentlich schwieriger, erfolgreich Anti-Dumping-Gesetze als Reaktion auf unfaire chinesische Handelspraktiken zu erlassen. Dumping bedeutet, dass ein Land seine Produkte zu künstlich niedrigen Preisen exportiert, um in einem anderen Land Marktanteile zu gewinnen. Anti-Dumping-Gesetze sehen beispielsweise Importzölle vor, um den Preisvorteil auszugleichen.

Die Entscheidung der EU über Chinas MES wäre ohnehin schon komplex und hätte auch unter anderen Umständen große Auswirkungen. Aber unglücklicherweise ist die ganze Angelegenheit durch Chinas stark ansteigende Stahlexporte in die EU noch komplizierter geworden – und es steht noch mehr auf dem Spiel.

Unter dem Druck eines sich abschwächenden Wachstums und einer schwindenden heimischen Nachfrage hat die chinesische Regierung zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um einigen ihrer angeschlagenen Industrien, darunter die Stahlindustrie, zu helfen. Das hat zu Überkapazitäten geführt. China hat nun einen Kapazitätsüberschuss bei Eisen und Stahl von mehr als 400 Millionen Tonnen pro Jahr. Das ist einer der Gründe, warum die chinesischen Stahlexporte 2015 um 20% auf das Rekordniveau von 100 Millionen Tonnen gestiegen sind.

Chinesische Regierungsvertreter haben eingestanden, dass „exzessive Allokation von Ressourcen“ und „unangemessene Interventionen“ durch die Lokalregierungen (welche die örtlichen Fabriken am Laufen halten wollen) es sehr schwierig gemacht haben, die überschüssigen Kapazitäten in der Industrie abzubauen. Diese Überschusskapazitäten werden nun in die EU verschifft – genau zu dem Zeitpunkt, an dem über das MES-Thema beraten wird.

Bis zu 3,5 Millionen Jobs gefährdet?

Was steht für die EU auf dem Spiel? Eine Studie des Washingtoner Economic Policy Institute schätzt, dass in der EU länder- und branchenübergreifend zwischen 1,7 und 3,5 Millionen Jobs gefährdet sein könnten, falls China den Marktwirtschaftsstatus erhält.

Gewerkschaften aus der Stahlindustrie haben bereits in Brüssel lautstark gegen die Gewährung des MES für China demonstriert und im Gegenzug die Einführung von Anti-Dumping-Zöllen gefordert. China seinerseits beharrt auf dem Standpunkt, dass die WTO-Abmachungen die EU dazu verpflichten, den MES bis zum Ende des Jahres zu gewähren. Man erwarte, dass die EU die Abmachung respektiert.

In dieser aufgeladenen Atmosphäre muss die EU eine Entscheidung treffen und sowohl die Europäer als auch die Chinesen müssen einen Weg finden, ihre Handelsbeziehungen durch diese rauen Fahrwasser zu navigieren.

Für die EU besteht die Gradwanderung darin, eine rechtlich wasserdichte Entscheidung darüber zu treffen, ob China aufgrund des WTO-Abkommens der MES garantiert werden muss oder nicht, oder ob es Raum für andere Schlussfolgerungen gibt. Das ist eine Entscheidung, die von Fakten bestimmt sein muss – und nicht auf Grundlage der Slogans, die von Demonstranten herausgeschrien werden.

Ein Bruch des WTO-Abkommens wäre ein fatales Signal

Die Anwälte streiten sich noch über das Thema. Den MES vorzuenthalten, obwohl das WTO-Abkommen diesen eigentlich notwendig machen würde, wäre ein Signal, dass es für Länder in Ordnung ist, Handelsabkommen zu brechen, wenn es ihren eigenen Interessen dient. Der langfristige Schaden eines solchen Signals würde bei weitem die kurzfristigen Vorteile überwiegen – insbesondere, weil der Westen seit Jahrzehnten China die Vorzüge predigt, die es hat, „nach den Regeln zu spielen“.

Die Gewährung des MES ist nicht gleichbedeutend mit einer einseitigen Entwaffnung

China den MES zu geben würde die EU nicht davon abhalten, auch weiterhin Anti-Dumping-Maßnahmen zu ergreifen – es würde es einfach nur schwieriger machen. Wenn Vorwürfe gegen China tatsächlich gerechtfertigt sind gibt es keinen Grund, warum diese nicht mittels Anti-Dumping-Maßnahmen erfolgreich angegangen werden könnten. Den MES zu gewährleisten ist nicht gleichbedeutend mit einer einseitigen Entwaffnung.

China seinerseits muss anerkennen, dass es ein Mitglied des globalen Handelssystems geworden ist – mit weitreichenden Konsequenzen. Die Tage, als China eigene Ziele ohne Rücksicht auf die Auswirkungen jenseits seiner Grenzen verfolgen konnte, sind lange vorbei. China ist schlicht und ergreifend zu groß und zu wichtig. Und es ist auch egal, ob es die Spitzenposition im Welthandel nun aktiv gewollt hat oder nicht – Länder, die am meisten vom Welthandel profitiert haben, tragen in jedem Fall auch eine große Verantwortung.

Chinas Politiker müssen künftig sensibler auftreten

Während China natürlich wie jedes andere Land auch seine eigenen Ziele verfolgen darf, muss es seine Entscheidungen aber jetzt in einem breiteren internationalen Kontext abwägen. Es war sicherlich nicht sonderlich schwierig vorauszusehen, dass die unter tatkräftiger staatlicher Mithilfe entstandene Überschusskapazität in der Stahlindustrie letztlich auf den Exportmärkten landen und Dumping-Vorwürfe provozieren würde. Und es wäre naiv, nicht zu erwarten, dass das MES-Thema – bei dem möglicherweise Millionen von Jobs auf dem Spiel stehen – unter diesen Umständen nicht extrem politisierend sein würde. Chinesische Politiker werden künftig etwas sensibler mit diesen Realitäten umgehen müssen, als sie es in der Vergangenheit getan haben.

Was ist nun die Bedeutung des Ganzen? Obwohl die Situation definitiv heikel ist, gibt es immer noch Raum für kreative und aufgeklärte Politiker auf beiden Seiten, einen Weg zu ebnen, der auf vernünftige Art und Weise die eigenen Ziele berücksichtigt, ohne die Struktur der für beide Seiten vorteilhaften Handelsbeziehungen zu gefährden.

China und die EU müssen wegen des MES nicht zwangsläufig auf Kollisionskurs geraten. Jetzt ist es an der Zeit, einen kühlen Kopf zu bewahren und die langfristigen Perspektiven zu berücksichtigen. Wir sollten ihnen viel Glück dabei wünschen – denn die Ausstrahlungen ihrer Entscheidungen werden sehr wahrscheinlich in jeder Ecke der Welt zu spüren sein.

 

Zum Autor:

Stephen Olson ist Research Fellow an der Hinrich Foundation in Hong Kong.

 

Hinweis:

Dieser Artikel wurde zuerst vom East Asia Forums (EAF) auf Englisch veröffentlicht. Das EAF ist eine Plattform für Analyse und Forschung zu Politik, Wirtschaft, Unternehmen, Recht, Sicherheit, internationalen Beziehungen und zu gesellschaftlichen Fragen, mit einem Fokus auf die Asien-Pazifik-Region (mehr erfahren). Dieser Beitrag wurde von der Makronom-Redaktion ins Deutsche übersetzt und mit Zustimmung des East Asia Forums veröffentlicht.