Große Teile Lateinamerikas haben seit Anfang der 2000er Jahre eine ungewöhnlich lange Phase relativer politischer Stabilität erlebt. Mit Ausnahme Kubas schienen sich demokratische gewählte Regierungen in der Region etabliert zu haben und die politischen Regeln weitestgehend befolgt zu werden. In der Tat hat der internationale Aufschrei nach dem Putsch gegen den honduranischen Präsident Manuel Zelaya unterstrichen, wie sehr sich die lateinamerikanische Politik seit den 70er Jahren verändert hat, als Militärdiktaturen die dominante Regierungsform waren.
Es ist kein Zufall, dass diese politische Stabilität von einer längeren Phase hoher Preise für die natürlichen Ressourcen begleitet wurde, die lateinamerikanische Länder exportieren. Die Region hat von einem anhaltenden Nachfrageschub aus China und anderen großen Schwellenländern profitiert.
Das wirft allerdings die Frage auf, ob diese Phase der politischen Stabilität und des Rohstoff-getriebenen Wachstums Lateinamerika fundamental verändert hat. Hat die politische Stabilität beispielsweise die staatlichen Institutionen und die Rechtsstaatlichkeit gestärkt? Und hat das Wirtschaftswachstum zu einer nachhaltigen Entwicklung und einer Reduzierung der in der Region traditionell sehr hohen Ungleichheit geführt?
Ja, sicherlich haben die Erträge aus den Rohstoffverkäufen zu weniger Ungleichheit geführt, obwohl diese quer durch die Region immer noch sehr hoch ist. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass Regierungen aller ideologischer Überzeugungen die Erträge genutzt haben, um die Sozialausgaben zu erhöhen, insbesondere durch an Bedingungen geknüpfte Geldzahlungen. Dazu zählen Zahlungen an Familien mit niedrigem Einkommen, wenn diese ihre Kinder zur Schule schicken oder sie impfen lassen.
Der Rohstoff-Boom traf auch zusammen mit einer Periode kluger Finanzpolitik. Sowohl die Regierungen und – noch viel wichtiger – die internationalen Finanzinstitutionen haben aus der Schuldenkrise und Hyperinflation der 80er und 90er Jahre gelernt. Das führte dazu, dass Lateinamerika die globale Finanzkrise relativ robust überstanden hat. Sogar Länder, deren Wirtschaft eng mit den USA verknüpft sind, wie zum Beispiel Mexiko, erlitten nur kurzfristige Einbrüche.
Alte Probleme bestehen weiter
Dennoch hat die Region weiterhin mit ihren alten Problemen zu kämpfen. Relativ freie und faire demokratische Wahlen mögen inzwischen weit verbreitet sein, aber es gibt wenig Anzeichen für funktionierende Institutionen, die für stabile demokratische Systeme fundamental sind.
Beispielsweise gibt es in Lateinamerika so gut wie keine stabilen politischen Parteien. Stattdessen werden kurzlebige politische Bewegungen um Einzelpersonen herum aufgebaut. Außerdem sind Justiz und Polizeibehörden weiterhin mangelhaft und oft korrupt. Tatsächlich hat der Anstieg der in Verbindung mit dem Drogenhandel stehenden Gewalt und des organisierten Verbrechens diese Herausforderungen deutlich gemacht. Weite Teile der Region sind heute viel gefährlicher, als sie es in der Vergangenheit waren – trotz des wirtschaftlichen Wachstums.
Hohe Rohstoffpreise und ein lebhafter wirtschaftlicher Aufschwung konnten diese Herausforderungen überdecken. Nach Jahren des Booms haben die Rohstofferträge zu steigenden Bau- und Konsumausgaben, einer breiten Verbesserung der Lebensstandards und einer Reduzierung der Ungleichheit geführt. In den Ölstaaten – insbesondere in Venezuela – waren die hohen Preise die Grundlage für starke Mehrausgaben für Sozialprogramme, die der Regierung die Unterstützung der Bevölkerung garantiert hat.
Das könnte darauf hindeuten, dass Lateinamerika unter einem klassischen Fall des „Ressourcenfluchs“ leidet, bei dem ein Ressourcenboom korrupte Politiker finanziert und zu verschwenderischen Ausgaben und unverantwortlicher Politik führt. In vielen Ländern, die unter dem Ressourcenfluch leiden, sickert aber immerhin so viel von dem Reichtum zu breiten Bevölkerungsschichten durch, so dass das Ausmaß der Fahrlässigkeit vieler Politiker nicht offensichtlich ist – insbesondere während die internationale Gemeinschaft immer wieder die scheinbaren wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten lobt.
Boom-and-Bust-Zyklus
Der jüngste Absturz der Rohstoffpreise zeigt aber bereits die Ergebnisse einige der korrupten und schlechten Regierungsführungen auf, die sich über Jahre hinweg angesammelt haben. Beispielsweise wurde die brasilianische Regierung schwer durch den Korruptionsskandal bei der staatlichen Ölfirma Petrobas angeschlagen.
In Venezuela hat der Kollaps der Öleinnahmen und der Tod des charismatischen ehemaligen Präsidenten Hugo Chavez die systematische Inkompetenz und die Übergriffe der Regierung ans Licht gebracht. In Peru untergraben im Vorfeld der im April anstehenden Präsidentschaftswahlen Korruptionsvorwürfe gegen die aktuelle Regierung und ihre Vorgänger das öffentliche Vertrauen in die Politik.
Lateinamerika hat bereits in der Vergangenheit Rohstoff-Booms erlebt. Ausnahmslos hat der Kollaps der Rohstoffpreise dann zu ernsthaften Wirtschaftskrisen geführt, die wegen der Kurzsichtigkeit der Regierungen alle zuvor erzielten Fortschritte wieder rückgängig gemacht haben. Es gibt ein erhebliches Risiko, dass dies jetzt wieder geschieht und die Zerbrechlichkeit der staatlichen Institutionen offenkundig wird.
Da große Teile der Bevölkerung inzwischen in urbanen Gebieten wohnen, wird es für die Zukunft der Region entscheidend sein, ob der Einbruch der Rohstofferträge die Konsumausgaben in den Städten beeinflusst. Eine solche Entwicklung hat bereits begonnen. Und wenn sie weitergeht wird die sinkende Binnennachfrage zu einem erheblichen wirtschaftlichen Einbruch führen. Dies wiederum würde höchstwahrscheinlich zu einem heftigen und weitverbreiteten Protest gegen die Korruption führen – wie wir sie bereits im letzten Jahr in Teilen Zentralamerikas beobachten konnten.
Zum Autor:
Neil Pyper ist Associate Head of School an der Coventry University. Unter anderem schreibt er regelmäßig über die Lateinamerika-Region für die Economist Intelligence Unit (EIU), Oxford Analytica, IHS und andere.
Dieser Artikel wurde zuerst von The Conversation auf englisch veröffentlicht und von der Makronom-Redaktion unter Zustimmung von The Conversation ins Deutsche übersetzt. Der im Text enthaltene Chart wurde ebenfalls von der Makronom-Redaktion erstellt.