Kommentar

Wozu brauchen wir eigentlich die Mindestlohn-Kommission?

Der Mindestlohn in Deutschland wird ab dem kommenden Jahr auf 8,84 Euro angehoben. Allerdings wirft der Kompromiss Fragen nach dem Sinn und Zweck der Mindestlohnkommission auf. Ein Kommentar von Stefan Sell.

Foto: enki22 via Flickr (CC BY-ND 2.0)

Nun ist es also vollbracht. Der gesetzliche Mindestlohn wird zum 1. Januar 2017 um 34 Cent von derzeit 8,50 Euro auf 8,84 Euro angehoben. Das entspricht einer Steigerungsrate von 4%. Die Bundesregierung muss der von der Mindestlohnkommission ausgesprochenen Empfehlung zwar noch zustimmen, dies gilt aber als sicher.

Der neue Mindestlohn wird zwei Jahre lang gelten. Erst am 30. Juni 2018 wird die Mindestlohnkommission dann eine neue Empfehlung für die Anpassung zum 1. Januar 2019 verkünden.

Wie aber ist die Kommission zu diesem krummen Betrag von 8,84 Euro gekommen? Um das nachvollziehen zu können, muss man einen Blick auf die Logik des Verfahrens werfen, anhand dessen die Lohnuntergrenze ermittelt wird. In § 9 des Mindestlohngesetzes (MiLoG) heißt es dazu:

„Die Mindestlohnkommission prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden. Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung.“

Hätte sich die Kommission aber tatsächlich an der Tarifentwicklung orientiert, hätte der Mindestlohn nur auf 8,77 Euro steigen dürfen. Denn der Tarifindex des Statistischen Bundesamtes, der die statistische Basis für die Tarifentwicklung liefert, ist im Zeitraum von Dezember 2014 bis Juni 2016 um lediglich 3,2% gestiegen.

Natürlich ist die Kommission nicht an den Tarifindex gebunden. Die oben zitierte Passage aus dem MiLoG weist ja auch daraufhin, dass es sich dabei um eine „Orientierung“ handelt und zudem die „Gesamtabwägung“ wichtig ist.

Allerdings hat sich die Kommission selbst eine Geschäftsordnung gegeben, die sie sehr eng – manche würden sagen: sklavisch eng – an die Tarifentwicklung bindet. In § 3 Abs. 1 Satz 2 der Geschäftsordnung steht, dass die Anpassung des Mindestlohns ab dem Jahr 2018 „im Regelfall gemäß der Entwicklung des Tarifindex des Statistischen Bundesamtes ohne Sonderzahlungen auf der Basis der Stundenverdienste in den beiden vorhergehenden Kalenderjahren“ festgesetzt wird.

Hiervon kann die Kommission nur abweichen, „wenn besondere, gravierende Umstände aufgrund der Konjunktur- oder Arbeitsmarktentwicklung vorliegen und die Kommission daher im Rahmen der in § 9 Abs. 2 MiLoG beschriebenen Gesamtabwägung zum Ergebnis kommt, dass die nachlaufende Orientierung am Tarifindex in dieser Situation nicht geeignet ist, die Ziele des § 9 Abs. 2 MiLoG zu erreichen“. Für eine entsprechende Abweichung ist außerdem eine Zweidrittelmehrheit der stimmberechtigten Mitglieder erforderlich.

Warum aber lag die Erhöhung jetzt oberhalb der vom Statistischen Bundesamt ermittelten Tarifentwicklung? Hatte die Kommission etwa ihre Spendierhosen an?

Natürlich könnte man an dieser Stelle darüber diskutieren, warum denn nicht ein noch deutlich höherer Betrag festgesetzt wurde, also beispielsweise ein Stundenlohn mit einer Neun, möglicherweise sogar einer Zehn vor dem Komma? Schließlich haben einige unserer europäischen Nachbarstaaten Mindestlöhne, die sich eher in diesen Größenordnungen bewegen. Und ist Deutschland nicht die größte und derzeit auch erfolgreichste Volkswirtschaft in Europa? Wäre da nicht auch mehr drin gewesen?

Stand: Januar 2016, Umrechnung in Euro zum Jahresdurchschnittskurs 2015. Quelle: WSI-Mindestlohndatenbank 2016

Vielmehr ist es so, dass die Orientierung am vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Tarifindex das tatsächliche Bild der Lohnentwicklung in Deutschland unterzeichnet. Das liegt daran, dass die Mindestlohnkommission entschieden hat, für die jetzt erfolgte erste Anpassung ausschließlich die Tarifentwicklung von Januar 2015 bis Juni 2016 zu berücksichtigen – was bedeutet, dass wichtige, kürzlich vereinbarte Tarifabschlüsse bei der Erhöhung außen vor bleiben.

Im Baugewerbe und im öffentlichen Dienst laufen noch die Erklärungsfristen, vor allem aber der gewichtige Abschluss der Metaller wirkt zu spät: Erst vom 1. Juli an gibt es hier mehr Geld. In der Pressemitteilung zum Tarifindex heißt es dazu: „Simulationsrechnungen haben ergeben, dass sich die Veränderungsrate von +3,2% durch den Tarifabschluss im öffentlichen Dienst auf +4,0% und durch den Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie auf +3,7% erhöht hätte. Beide Tarifabschlüsse zusammen hätten zu einer Steigerung von 4,4% geführt.“

Unter strenger Anwendung des eigenen Regelwerks hätte die Mindestlohnkommission die Lohnuntergrenze also um 3,2% auf 8,77 Euro erhöhen müssen. Unter Berücksichtigung der bereits abgeschlossenen Tarifverträge wäre eine Erhöhung um 4,4% auf 8,87 Euro fällig gewesen – da die Mindestlohn-Anhebung erst zum 1. Januar 2017 erfolgt, wäre das auch sehr gut begründbar.

Und was macht in diesem Fall eine Kommission, die paritätisch mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern besetzt ist und die jeder Seite über die erwähnte Zwei-Drittel-Mehrheits-Klausel de facto ein Vetorecht einräumt? Man trifft sich in der Mitte. Eben bei den 8,84 Euro, die einen Anstieg von 4% widerspiegeln – das ist genau der Betrag, der sich bei Berücksichtigung des Tarifabschlusses des öffentlichen Dienstes ergibt.

Excel kann das auch

Man kann dieses Ergebnis sicherlich – je nach Standpunkt – als mehr oder weniger vernünftigen Kompromiss zweier Interessensgruppen bezeichnen. Allerdings stellt in sich in jedem Fall die Frage nach dem Sinn und Zweck der Mindestlohnkommission. Denn wenn man den gesetzlichen Auftrag so kleinteilig auslegt, dann könnte man diese Kommission auch durch eine Excel-Tabelle ersetzen. Die enthält den von den amtlichen Bundesstatistikern gelieferten Tarifindex. Man müsste einfach die Werte eingeben und gut ist. Die Reisekosten und die Geschäftsstelle der Kommission ließen sich einsparen.

Diese Einschätzung wird noch weiter bestätigt, wenn man sich den aktuellen Beschluss der Kommission vom letzten Dienstag etwas genauer anschaut. Darin heißt es in gewohnt umständlicher Sprache:

„Für die bis zum 30. Juni 2018 mit Wirkung zum 1. Januar 2019 vorzunehmende Anpassungsentscheidung stellt die Mindestlohnkommission fest, dass die Tarifsteigerung seit Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes bis zum 30. Juni 2016 gemäß der Entwicklung des Tarifindex des Statistischen Bundesamtes ohne Sonderzahlungen auf Basis der Stundenverdienste ohne die Tarifvereinbarung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes 3,2 Prozent beträgt. Das entspricht einem Betrag von 8,77 Euro. Dieser ist für die Anpassungsentscheidung in 2018 mit Wirkung zum 1. Januar 2019 als Basis zugrunde zu legen, damit die Tarifsteigerung für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes nicht doppelt in die Anpassung einfließt.“

Übersetzt bedeutet das: Wenn Ende Juni 2018 festgestellt wird, dass der Tarifindex des Statistischen Bundesamtes in den zurückliegenden zwei Jahren beispielsweise um 4% gestiegen ist, dann wird der Mindestlohn nicht um 4% von 8,84 Euro erhöht, sondern nur um 4% von 8,77 Euro.

Spätestens an dieser Stelle könnte man die Kommission auflösen. Denn alle Parameter, die Ende Juni 2018 für die Berechnung der nächsten Anpassung benötigt werden, sind damit gegeben. Der neue Mindestlohnbetrag ab dem 1. Januar 2019 lässt sich nach Lieferung des im Juni 2018 aktualisierten Tarifindex des Statistischen Bundesamtes mit einem simplen Rechenschritt bestimmen.

Und wie beschrieben: Jede Abweichung davon – im Mindestlohngesetz grundsätzlich als Option angelegt – wird durch das Erfordernis einer Zwei-Drittel-Mehrheit in der Kommission bei der Entscheidung zu einem illusorischen Unterfangen. Das wird nicht passieren.

Fazit: Der Berg Mindestlohnkommission kreißte und musste eine Maus gebären. Herausgekommen sind jene 8,84 Euro, die es erst in ein paar Monaten geben wird und die dann für zwei lange Jahre Bestand haben werden. Dieses System führt dazu, dass an der Mindestlohnfront jetzt erstmal zwei Jahre Ruhe herrschen. Das mag für Politiker von Vorteil sein – für die 1,9 Millionen vom Mindestlohn betroffenen Menschen sind es aber leider keine guten Nachrichten.

 

Zum Autor:

Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell das Portal Aktuelle Sozialpolitik, auf dem dieser Beitrag zuerst erschienen ist.