Kommentar

Wieso Deutschland seinen fiskalischen Spielraum nutzen sollte

Jobwunder, brummende Wirtschaft, boomender Konsum: Deutschland fühlt sich heute wie der europäische Superstar. Allerdings wäre etwas mehr Bescheidenheit angebracht – denn die guten Zahlen spiegeln lediglich einen Aufholprozess wider. Die Politik sollte deshalb ihre Wahlgeschenke überdenken und deutlich mehr tun, um die öffentlichen und privaten Investitionen zu stärken. Ein Kommentar von Marcel Fratzscher.

Die deutsche Wirtschaft brummt – wir dürfen aber nicht ignorieren, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit alles andere als beeindruckend war und ist. Foto: Pixabay

Der Internationale Währungsfond (IWF) hat wieder einmal die Bundesregierung für eine falsche Finanzpolitik kritisiert. Der IWF mahnt an, die Bundesregierung solle ihren fiskalischen Spielraum – den sogenannten „fiscal space“ – nutzen, um mehr öffentliche und private Investitionen anzustoßen und damit das Wachstum in Deutschland und Europa zu stärken. Diese Kritik stößt in Deutschland meist auf taube Ohren, viele verwehren sich ihr. Otmar Issing – früherer Chefvolkswirt der EZB und einer der führenden Ökonomen Deutschlands – hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung diese Kritik eingeordnet und klug abgewogen.

Issing mahnt zu Recht die Schwäche der Investitionen in Deutschland an und ruft den Staat auf, sie deutlich zu erhöhen. Diese Investitionen sollten laut Issing jedoch nicht über neue Schulden finanziert werden, sondern über eine Umschichtung in den öffentlichen Haushalten: Den höheren Ausgaben sollte ein Rückgang des öffentlichen Konsums gegenüberstehen.

Vor dem Hintergrund einer soliden wirtschaftlichen Entwicklung mangelt es dem Bundesfinanzminister sicherlich nicht an Steuereinnahmen. Einen großen Teil ihres fiskalischen Spielraums hat die Bundesregierung allerdings für wirtschaftlich wenig sinnvolle Wahlgeschenke genutzt, wie etwa eine Rentenreform. Kostenpunkt: knapp 10 Milliarden Euro pro Jahr.

Otmar Issing liegt auch richtig wenn er zu bedenken gibt, dass höhere öffentliche Ausgaben in Deutschland wohl kaum ausreichen werden, um einen Wachstumsimpuls für Italien und andere Krisenländer zu setzen.

Es gibt jedoch viele gute Gründe für ein Umdenken der Finanzpolitik in Deutschland. Das Argument, die deutsche Wirtschaft würde am Potenzialwachstum produzieren und benötige daher keine höheren staatlichen Ausgaben, ist so nicht richtig. Denn das Hauptproblem der deutschen Wirtschaft ist, dass das Potenzialwachstum in den vergangenen 20 Jahren viel zu gering war und weiterhin zu niedrig ist.

Deutschland fühlt sich heute wie der europäische Superstar: es gibt ein Beschäftigungswunder, die Wirtschaft brummt, der Konsum boomt. Leider ignorieren wir dabei, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes alles andere als beeindruckend war und ist. Zwei Fakten zeigen dies überdeutlich. Die deutsche Volkswirtschaft ist seit Anfang 2008 lediglich um 8 Prozent gewachsen, also nur knapp 1,0 Prozent pro Jahr. Das ist schwach und liegt deutlich unter dem gegenwärtigen Potenzialwachstum von 1¼ bis 1½ Prozent.

Deutschland würde etwas mehr Bescheidenheit guttun – denn die gegenwärtigen guten Jahre spiegeln lediglich einen Aufholprozess wider

Noch deprimierender ist der Blick auf die Wirtschaftsleistung der vergangenen zwei Jahrzehnte. Seit dem Beginn der Währungsunion im Jahr 1999 ist die deutsche Volkswirtschaft kumuliert um 3 Prozent weniger gewachsen als die französische und um 10 Prozent weniger als die spanische. Wir vergessen heute allzu gerne, dass Deutschland vor zehn Jahren noch der kranke Mann Europas war, der von seinen Nachbarn genauso mitleidig betrachtet wurde, wie mancher in Deutschland heute auf die Nachbarn schaut. Deutschland würde daher etwas mehr Bescheidenheit guttun. Die gegenwärtigen guten Wachstumszahlen spiegeln lediglich einen Aufholprozess der verlorenen 2000er Jahre wider.

Diese Zahlen zeigen auch, dass Deutschlands größte wirtschaftspolitische Schwäche die viel zu geringen Investitionen sind, die letztlich für das vergleichsweise geringe Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum der vergangenen 20 Jahre verantwortlich sind. Und gerade deshalb muss die Politik deutlich mehr tun, um die öffentlichen und privaten Investitionen zu stärken. Denn Investitionen schaffen nicht nur einen kurzfristigen Nachfrageimpuls – noch viel wichtiger sind ihre Wirkungen auf der Angebotsseite, wo sie die Produktivität und damit das Potenzialwachstum erhöhen.

Deutschland braucht eine Wende in der Fiskalpolitik. Die Schuldenbremse ist zwar richtig und notwendig und hat zu einer Reduzierung der Staatsschulden beigetragen, leider aber auch zulasten öffentlicher Investitionen. Die Bundesregierung sollte ihre Wahlgeschenke überdenken und anstelle dessen die öffentlichen Investitionen deutlich stärken. Sorgenvoll betrachte ich in diesem Zusammenhang den Überbietungskampf an Steuersenkungsversprechen, den sich die politischen Parteien derzeit liefern.

Mehr Investitionen, angefangen mit öffentlichen Investitionen, würden die Produktivität und das Potenzialwachstum der deutschen Wirtschaft stärken, gute Jobs im Land halten und letztlich helfen, den Wirtschaftsstandort Deutschland langfristig zu sichern.

 

Zum Autor:

Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor an der Humboldt-Universität in Berlin.