Slumming

Wie der Slum-Tourismus bei der Reduzierung der globalen Ungleichheit helfen kann

Das sogenannte „Slumming“ ist zurück: Vermögende Westler streifen massenhaft durch die Armenviertel unserer Welt. Diese Form des Tourismus mag vielen als moralisch problematisch oder sogar grundfalsch erscheinen – kann aber auch dazu beitragen, den Einwohnern der Slums mehr politische und soziale Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Foto: Joao Lima via Flickr (CC BY-NC 2.0)

Im Viktorianischen Zeitalter konnte man manchmal wohlhabendere Bürger dabei beobachten, wie sie durch Londons Armenviertel wanderten und Wohltaten an die Bedürftigen verteilten. Dieses sogenannte „Slumming“ wurde später als moralisch fragwürdiger oder voyeuristischer Zeitvertreib verurteilt. Heute erlebt das Slumming ein Comeback: Vermögende Westler unternehmen erneut Streifzüge durch die Armenviertel – dieses Mal wagen sie sich in die Entwicklungsländer.

Laut Schätzungen von Reiseanbietern und Forschern haben im Jahr 2014 über eine Million Touristen ein Township, eine Favela oder einen Slum besucht. Die meisten dieser Besuche waren Teil von drei- oder vierstündigen Touren in die Hotspots des globalen Slum-Tourismus: informelle Stadtteile in Kapstadt, Johannesburg, Rio de Janeiro und Mumbai.

Es gibt Grund zur Annahme, dass der Slum-Tourismus größer ist, als diese Zahlen suggerieren, wenn man die Tausenden von internationalen Freiwilligen berücksichtigt, die wenige Tage oder viele Monate in verschiedenen Slums auf der Welt verbringen.

Ein Auslandsjahr bzw. „Gap Year“ gehört mittlerweile für junge Erwachsene zwischen Schule und Universität zum Erwachsenwerden dazu. In Großbritannien werden Freiwilligendienste und Angebote oftmals von kommerziellen Tourismusfirmen vermittelt. In Deutschland und den USA gibt es staatlich finanzierte Programme (zum Beispiel “weltwärts“), um junge Menschen zur Annahme von Freiwilligenarbeit im Ausland zu bewegen.

Und die internationale Freiwilligenarbeit ist auch nicht mehr auf junge Menschen in speziellen Lebensphasen begrenzt. Die Freiwilligen werden heute quer durch alle Altersgruppen rekrutiert.

Auch andere Reisende kann man als Slum-Touristen bezeichnen: Darunter sind internationale Aktivisten, die nach klassenübergreifenden Begegnungen suchen, um die globale Gerechtigkeit voranzutreiben, bis hin zu Studierenden und Wissenschaftlern, die in den Armenvierteln Feldforschung verrichten.

Die Armut wird zur Attraktion

Der moderne Tourismus führt oft reichere Menschen mit relativ ärmeren Menschen und Orten zusammen. Aber die diversen Praktiken des Slum-Tourismus sind darin spezifisch, indem hier die Armut zur Attraktion wird – sie ist der Grund für die Reise.

Viele Menschen werden instinktiv denken, dass diese Art des Urlaubs moralisch problematisch, wenn nicht sogar grundfalsch ist. Aber ist es wirklich besser, in ein Land wie Indien zu reisen und die enorme Ungleichheit zu ignorieren?

Natürlich ist unsere Welt voller tiefer und rigider Ungleichheiten. Trotz einiger Fortschritte im Kampf gegen die absolute Armut steigt die Ungleichheit weltweit an. Nur wenige Leute würden offen widersprechen, dass etwas dagegen getan werden muss – aber die entscheidende Frage lautet: wie?

Der Slum-Tourismus sollte als Versuch verstanden werden, diese Frage zu adressieren. Anstatt ihn von vorneherein abzulehnen, sollten wir ihn auf den Prüfstand stellen und fragen: Hilft der Slum-Tourismus dabei, die globale Ungleichheit zu reduzieren?

Meine Untersuchungen des Slum-Tourismus haben einige überraschende Antworten auf diese Frage gebracht. Wir neigen dazu, Tourismus hauptsächlich als ökonomische Transaktion zu betrachten. Aber der Slum-Tourismus trägt tatsächlich nur sehr wenig dazu bei, auf direktem Wege Geld in die Slums zu transferieren: Denn die Gesamtzahl der Slum-Touristen und die Summe des Geldes, das sie bei ihren Besuchen in den Armenvierteln ausgeben, ist unerheblich im Vergleich zu den Ressourcen, die benötigt werden, um die globale Ungleichheit zu reduzieren.

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Foto: Wrote via Flickr (CC BY-NC 2.0)

Aber hinsichtlich ihres symbolischen Werts können sogar geringe Zahlen von Slum-Touristen manchmal die Wahrnehmung eines Ortes verändern. 20.000 Touristen besuchen pro Jahr Mumbais Armenviertel Dharavi, einen Schauplatz des Oscar-prämierten Films Slumdog Millionär. Die Besucherzahlen konkurrieren jetzt mit Mumbais Elephanta-Insel – die immerhin zum Weltkulturerbe gehört.

In Johannesburg betrachten die meisten Einheimischen den Stadtteil Hillbrow als No-go-Area. Aber es gibt inzwischen so viele touristische Führungen durch das Viertel, dass Plattformen wie Trip Advisor Hillbrow jetzt als eine von Johannesburgs Top-Attraktionen auflisten. Das touristische Interesse hat auch die Favelas von Rio de Janeiro auf die Landkarte gebracht – davor waren die Armenviertel von den städtischen Behörden und lokalen Eliten versteckt worden.

Zunehmende Sichtbarkeit

Trotz der globalen Anti-Armuts-Rhetorik ist es doch eindeutig, dass einige Menschen von der weitverbreiteten Armut profitieren.  In diesem Zusammenhang ist das Verschleiern von Armut und Armutsvierteln politisch relevant. Unsichtbarkeit bedeutet, dass die Einwohner der Armenviertel Schwierigkeiten haben, Forderungen nach angemessener Unterbringung, städtischer Infrastruktur und Sozialleistungen zu artikulieren. Sie stehen als billige Arbeitskräfte zur Verfügung, aber haben keine vollen sozialen und politischen Rechte.

Der Slum-Tourismus kann den Einwohnern der Armenviertel mehr politische und soziale Aufmerksamkeit verschaffen

Der Slum-Tourismus ist in der Lage, die Sichtbarkeit der Armenviertel zu erhöhen, was wiederum deren Einwohnern mehr soziale und politische Aufmerksamkeit verschafft. Sichtbarkeit alleine kann natürlich nicht alle Probleme lösen. Sie kann hochgradig selektiv, irreführend und voyeuristisch, aber auch übermäßig positiv sein, wenn sie die wahren Probleme überdeckt. Das gilt indes nicht nur für den Slum-Tourismus, sondern auch für das „virtuelle Slumming“ – also für den Konsum von Bildern, Filmen und Büchern über die Armenviertel.

Allerdings hat der Slum-Tourismus gegenüber dem „virtuellen Slumming“ einen entscheidenden Vorteil: Er bringt Menschen zusammen. Wenn wir wollen, dass der Tourismus einen Beitrag gegen die globale Ungleichheit leistet, dann sollten wir fragen, wo er grenzüberschreitende Begegnungen ermöglicht und wo er Touristen dazu ermutigt, lokale Probleme an die Oberfläche zu bringen und sich global im Kampf gegen Ungleichheit zu vernetzen. Dies bedeutet auch, sich von landläufigen Vorstellungen des Tourismus als rein ökonomischer Transaktion zu verabschieden und seine politischen und sozialen Potentiale zu realisieren.

 

Zum Autor:

Fabian Frenzel ist Dozent für politische Ökonomie und Organisation an der University of Leicester. Im Juni ist sein neuestes Buch „Slumming it: The Tourist Valorisation of Urban Poverty“ erschienen. Auf Twitter: @fabnomad

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Dieser Artikel wurde zuerst von The Conversation in englischer Sprache veröffentlicht und von der Makronom-Redaktion unter Zustimmung von The Conversation ins Deutsche übersetzt.The Conversation