Wettbewerbsfähigkeit

Draghis Masterplan für eine neue europäische Industriestrategie

Mario Draghis Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit dürfte die EU-Politik in nächsten fünf Jahre maßgeblich beeinflussen – und macht sehr deutlich, was dabei für Europa auf dem Spiel steht. Ein Beitrag von Simone Tagliapietra.

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Am Montag hat der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi seinen in Brüssel lange erwarteten Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit vorgelegt. Es wird erwartet, dass er das Arbeitsprogramm für die nächsten fünf Jahre der Europäischen Kommission unter der Leitung von Ursula von der Leyen, die den Bericht in Auftrag gegeben hat, maßgeblich beeinflussen wird.

Der Bericht ist ein Masterplan für eine neue europäische Industriestrategie. Draghi sieht die Dekarbonisierung als deren Kernstück. Während einige Stimmen – vor allem von der extremen Rechten – den grünen Wandel als existenzielle Bedrohung für die industrielle Wettbewerbsfähigkeit Europas darstellen, betont der Bericht, dass eine ehrgeizige Klimapolitik erhebliche industrielle Chancen für den Kontinent freisetzen kann und sollte.

Die Dekarbonisierung ist in der Tat eine Chance für Europa, die Energiepreise zu senken und die Führung bei sauberen Technologien zu übernehmen. Um die Dekarbonisierung mit einer technologischen Führungsrolle zu verbinden, schlägt Draghi einen „gemeinsamen Plan für Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit“ vor. Dieser Plan passt zu der von von der Leyen für 2024-2029 vorgeschlagenen Leitinitiative „Clean Industrial Deal“. Dieser zielt darauf ab, die zu wenig beachteten industriellen Aspekte der Leitinitiative der letzten fünf Jahre, des European Green Deal, weiterzuentwickeln.

Draghi sagt ganz unverblümt, was in dieser Hinsicht auf dem Spiel steht: Die grüne Strategie Europas beruht auf der Schaffung neuer grüner Arbeitsplätze. Ihre politische Nachhaltigkeit könnte also gefährdet sein, wenn die Dekarbonisierung stattdessen zu einer Deindustrialisierung Europas führt.

Draghis Plan hat das, was jede moderne Industriepolitik haben sollte: eine Kombination aus horizontalen Maßnahmen, um die richtigen Rahmenbedingungen für Investitionen zu schaffen, und vertikalen Maßnahmen, um sektorspezifische Probleme zu lösen. Dies spiegelt auch ein allgemeines Prinzip wider, das dem Bericht zugrunde liegt: Die EU muss sich auf die Entwicklung einer wettbewerbsfähigen, offenen und innovativen wissensbasierten Wirtschaft konzentrieren und gleichzeitig gezielte Maßnahmen für Situationen ergreifen, in denen EU-Unternehmen mit Asymmetrien konfrontiert sind, z. B. unterschiedliche Geschwindigkeiten bei der Dekarbonisierung in Europa und weltweit.

In dem Bericht werden vier wichtige horizontale Maßnahmen genannt. Erstens sollte der EU-Binnenmarkt in vollem Umfang verwirklicht werden, wie es in einem anderen Bericht des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten, dem Letta-Bericht vom April, vorgesehen ist. Zweitens sollten Maßnahmen ergriffen werden, um die Industrie-, Wettbewerbs- und Handelspolitik besser zu koordinieren, damit Fallstricke der internen Bevorzugung von etablierten Unternehmen und des externen Protektionismus vermieden werden. Drittens braucht es Maßnahmen, um die nötigen massiven Investitionen zu mobilisieren, einschließlich neuer EU-Kredite für europäische öffentliche Güter wie bahnbrechende Innovationen und grenzüberschreitende Stromnetze. Viertens sollte die Koordinierung der Industriepolitik auf EU-Ebene gestärkt werden, um den traditionellen fragmentierten Ansatz zu überwinden, der die EU daran hindert, Größenvorteile zu erzielen und eine globale Hebelwirkung zu erzielen.

Was die vertikalen politischen Maßnahmen anbelangt, so hebt der Bericht den entscheidenden Zielkonflikt zwischen Dekarbonisierung, Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit hervor. Beispiele aus dem Lehrbuch sind chinesische Solarpaneele und Elektroautos: Sie sind zwar sicherlich gut für die europäische Dekarbonisierung, aber auch problematisch für die Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit der EU.

Um diesen schwierigen Zielkonflikt zu bewältigen, schlägt Draghi vor, Schwarz-Weiß-Lösungen im europäischen Kontext zu vermeiden. Vor allem weist er in seinem Bericht die Versuchung entschieden zurück, den Ansatz der USA nachzuahmen, saubere chinesische Technologien systematisch auszuschließen, was den grünen Wandel in Europa noch schwieriger und teurer machen würde. Stattdessen plädiert Draghi richtigerweise dafür, dass Europa eine intelligente und technologiespezifische grüne Industriepolitik betreiben sollte, die auf die Gegebenheiten der einzelnen Industriesektoren zugeschnitten ist. So schlägt der berichtet beispielsweise vor, Europas Türen für Solarpaneele offen zu halten, bei denen die EU keinen großen komparativen Vorteil hat, und im Grunde die teuren Produktionssubventionen der Herkunftsländer zu nutzen, während die Lieferanten so weit wie möglich diversifiziert werden, um die Sicherheit zu maximieren.

In Branchen wie der Windkraftindustrie, in denen Europa einen starken komparativen Vorteil hat, plädiert Draghi jedoch dafür, dass Europa die Unterstützung ausweitet und bei öffentlichen Aufträgen explizite Mindestquoten für lokale Produkte und Komponenten einführt. Der Bericht unterstreicht auch die Notwendigkeit, bei Bedarf verstärkt auf handelspolitische Instrumente – angefangen bei den Zöllen – zurückzugreifen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Er unterstreicht die Notwendigkeit, alle möglichen Instrumente einzusetzen, um junge Industrien zu unterstützen und zu schützen, in denen Europa einen Innovationsvorsprung und ein zukünftiges Wachstumspotenzial hat.

Die detaillierten Empfehlungen Draghis werden für die Europäische Kommission eine maßgebliche Grundlage für die Entwicklung des Clean Industrial Deal sein. Die EU verfügt bereits über den Net Zero Industry Act, ein Gesetz, das darauf abzielt, die Produktion von sauberen Technologien zu unterstützen, indem es einige der Hindernisse für die Ausweitung der Geschäftstätigkeit von Unternehmen der sauberen Technologien beseitigt. Dies war ein erster Schritt in die richtige Richtung und sollte umgehend umgesetzt werden.

Der Draghi-Bericht macht jedoch deutlich, dass noch viel umfassendere Maßnahmen erforderlich sind, sowohl in Bezug auf die Clean-Tech-Industrie als auch auf die Dekarbonisierung etablierter energieintensiver Industrien wie Stahl, Aluminium, Zement und Chemie, um sicherzustellen, dass Europa Dekarbonisierung und Technologieführerschaft effizient kombinieren kann.

 

Zum Autor:

Simone Tagliapietra ist ein Senior Fellow bei Bruegel, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erscheinen ist. Er ist außerdem Professor für EU-Energie- und Klimapolitik an der Johns Hopkins University – School of Advanced International Studies (SAIS) Europe.