Kommentar

Welche Lehren der Rest der EU aus dem Brexit ziehen sollte

Die britischen Wähler haben sich für den Brexit entschieden. Aber zumindest die Debatte im Vorfeld des Referendums hatte auch etwas Gutes: Sie hat gezeigt, dass die EU ökonomisch funktioniert. Damit der Brexit eine Ausnahme bleibt, muss jetzt dringend der Konflikt zwischen wirtschaftlicher Integration und demokratischer Souveränität gelöst werden.

Wenn die EU nicht noch mehr Sehenswürdigkeiten verlieren will, muss sie künftig ein paar Sachen anders machen. Foto: Hernan Pinera via Flickr (CC BY-SA 2.0)

Sie haben es also tatsächlich getan: Mit knapper Mehrheit haben die britischen Wähler für den Brexit votiert. Die Folgen dieser Entscheidung sind am Tag 1 noch gar nicht abzusehen. Der Einbruch des britischen Pfunds gibt einen Vorgeschmack darauf, was der britischen Wirtschaft jetzt blüht. Und auch der Rest Europas wird unter der nun einsetzenden Unsicherheit und dem Verlust eines seiner größten Mitgliedsstaaten leiden.

Es mag an einem solchen Tag zwar schwerfallen, optimistisch zu sein. Doch zumindest die Debatte über das britische EU-Referendum hatte auch etwas Positives.

Sie hat eine sehr lebendige Diskussion über die ökonomischen Vorteile einer EU-Mitgliedschaft angestoßen. Und deren Ausgang war ziemlich eindeutig: Die durch den gemeinsamen Binnenmarkt garantierte Personenfreizügigkeit, sowie der freie Firmen-, Kapital-, Güter- und manchmal auch Dienstleistungsverkehr waren für seine Mitglieder von Vorteil. Das gilt auch für den Einfluss der EU in internationalen Verhandlungen, der wesentlich größer ist, als der von einzelnen EU-Staaten. Großbritanniens drängendste wirtschaftliche Probleme – die steigende Ungleichheit, die haushaltspolitischen Folgen der Finanzkrise, ein dramatischer Wohnungsmangel und das abflauende Produktivitätswachstum – sind fast komplett hausgemacht. Aber die Brexit-Debatte hat auch die politischen Grenzen aufgezeigt, die mit der wirtschaftlichen Integration in Europa einhergehen.

In ihrem ökonomischen Kern ist die EU eine ideale Form der Globalisierung

In ihrem ökonomischen Kern ist die EU eine ideale Form der Globalisierung: Vollständig offene Märke für Güter und (manche) Dienstleistungen werden mit der Freizügigkeit von Kapital und Arbeitskräften ergänzt. Die EU-Strukturfonds und der Steuerwettbewerb erlauben es Regionen mit einer schwächeren Startposition, zum Rest des Feldes aufzuschließen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ermöglicht es Menschen, in produktivere Regionen zu ziehen, um von höheren Löhnen zu profitieren.

Und es funktioniert. Die EU hat die Handelskosten zwischen den Mitgliedsstaaten reduziert, jedes Land konnte seine komparativen Vorteile ausspielen und dadurch die Preise für Konsumenten senken. Laut Schätzungen des Centre for European Reform (CER) liegt der britische Handel mit der EU 55% höher als man allein durch die geographische Nähe der beiden erwarten würde.

Größere Märkte führen auch zu einem stärkeren Wettbewerb, der Unternehmen zu mehr Investitionen und Innovationen drängt. Es ist kein Zufall, dass Europas Produktivitätswachstum im Dienstleistungssektor, der immer noch weitestgehend national ist, hinter dem der USA zurückhängt – während das Produktivitätswachstum im europaweit vereinheitlichten produzierenden Gewerbe sich ähnlich wie in den USA entwickelt.

Auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit war eine Erfolgsgeschichte. Sie hat es Menschen aus weniger entwickelten Regionen erlaubt, in produktivere Teile der EU-Wirtschaft zu ziehen. Gleichzeitig haben niedrigere Löhne und ein kleinerer Kapitalstock in den weniger produktiven Regionen Investitionen aus anderen EU-Staaten angezogen, was diese Volkswirtschaften näher an den EU-Durchschnitt herangebracht hat. Tatsächlich wuchs das Bruttoinlandsprodukt in Zentral- und Osteuropa vor der Krise um durchschnittlich fast 6% pro Jahr.

Somit ist das Urteil über die ökonomische Seite der EU eindeutig positiv. Aber eine solche Form der „europäischen Globalisierung“ braucht einheitliche Gesetze und Regularien – sie kann nicht mit 28 verschiedenen Regelwerken funktionieren. Ebenso nötig sind eine europäische Rechtsprechung im Bereich der Wettbewerbspolitik und die Beschränkung von Staatsbeihilfen, um gleiche Chancen für alle zu garantieren.

Die Freizügigkeit von Arbeitskräften, Strukturfonds und andere Formen der europäischen Zusammenarbeit vervollständigen den gemeinsamen Binnenmarkt, damit er fair und gerecht ist. Diese Maßnahmen müssen durch politische Arrangements unterfüttert werden. Kurz gesagt bedeutet das, dass es eine politische Lösung geben muss, um den Konflikt zwischen souveränen nationalen Demokratien und der Europäischen Integration zu lösen.

Die derzeitige Struktur der EU-Institutionen ist ein solcher Versuch: Die EU-Staaten geben einen Teil ihrer Souveränität ab, um sich ökonomisch zu integrieren. Sie behalten dafür einen Mix aus demokratischer Kontrolle auf nationaler und europäischer Ebene.

Weder Großbritannien, noch andere EU-Staaten haben durch das Europäische Projekt die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal verloren

Niemand hat jemals behauptet, dass das leicht werden würde. Aber der „Take back control“-Schlachtruf der Brexit-Befürworter ist ganz sicher nicht die Antwort: Weder Großbritannien, noch andere EU-Staaten haben durch das Europäische Projekt die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal verloren. Stattdessen teilen sie ihre Souveränität mit anderen, um ihre nationalen Interessen zu verfolgen.

Der Rest der EU kann aus der Brexit-Debatte drei Lehren ziehen.

1

Die EU funktioniert und bietet ihren Mitgliedern die versprochenen ökonomischen Vorteile. Eine sachliche Debatte darüber kann gewonnen werden und sollte von pro-europäischen Politikern offener geführt werden. Das Problem ist natürlich, dass die meisten EU-Staaten auch Mitglieder der Eurozone sind – und die ökonomische Debatte über die Vorzüge der Währungsunion ist wesentlich schwieriger zu gewinnen. Daher ist es für Europas politische Stabilität entscheidend, auch den Euro zum Erfolg zu führen.

2

Die britischen Wähler empfinden offenbar einen Verlust der nationalen Souveränität in Europa. Im engeren Sinne wird die nationale Souveränität tatsächlich gemindert – aber um gemeinsam mit anderen ein höheres Ziel zu erreichen. Die EU muss sicherstellen, dass diese Ziele auch tatsächlich von „höherer“ Natur und erstrebenswert sind. Nicht jede Harmonisierung, die vielleicht kleinere Vorteile bringt, sollte auch eingeführt werden, wenn der Preis dafür in einem (gefühlt) großen Verlust von Souveränität besteht.

Das gilt umso mehr für die Eurozone, wo der durch den Euro ausgelöste Integrationsdruck und die Politik der demokratischen Nationalstaaten am heftigsten aufeinanderprallen. Die Eurozone sollte die Integration nur da vorantreiben, wo es wirklich wichtig ist, beispielsweise bei den Finanzmärkten. Und sie sollte den Mitgliedsstaaten – etwa bei der Durchführung von Strukturreformen – so viel Souveränität wie möglich überlassen.

3

Die demokratische Legitimität der EU spielt auch ökonomisch eine Rolle. Es macht zwar Sinn, Souveränität zu bündeln, um eine stärkere wirtschaftliche Integration voranzutreiben – aber diese Bündelung darf nicht im Widerspruch zur demokratischen Kontrolle stehen. Ansonsten wird sich die öffentliche Meinung (noch stärker) gegen weitere Integration wenden. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass die EU eine föderale Struktur mit einem stärkeren Europäischen Parlament braucht. Stattdessen sollte die EU Wege finden, sowohl das EU- als auch die nationalen Parlamente einzubeziehen, um ihre demokratische Legitimation zu erhöhen.

Die EU sollte zudem häufiger vom Konzept der „verstärkten Zusammenarbeit“ Gebrauch machen, das eine engere Integration zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten vorsieht, der andere Staaten beitreten können, wenn sie denn wollen.

Nur wenn die EU an allen diesen drei Fronten Fortschritte erzielt, können wir sicher sein, dass Großbritannien auf absehbare Zeit das einzige Land bleibt, das aus dem Europäischen Projekt aussteigt.

 

Zum Autor:

Christian Odendahl ist Chef-Volkswirt des Centre for European Reform (CER).