Parlamentswahlen

Quo vadis, Italia?

Wenn Italien am 4. März ein neues Parlament wählt, wird Europa wieder einmal den Atem anhalten – denn in kaum einem anderen Mitgliedsstaat wird die EU so skeptisch gesehen. Welche Szenarien sind nach der Wahl zu erwarten? Eine Vorschau von Nicole Koenig und Paul-Jasper Dittrich.

Nationaldenkmal in Rom: Wie ist der italienische Euroskeptizismus zu bewerten? Bild: Pixabay

Anfang 2017 blickte Europa mit Sorge auf die Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich. Angesichts des Erstarkens rechtspopulistischer und europhober Kräfte stand viel auf dem Spiel. Nach den jeweiligen Urnengängen hieß es erstmal Aufatmen. Doch mit Blick auf die Parlamentswahl in Italien am 4. März 2018 gerät der Atem auch Anfang 2018 erneut ins Stocken. Ein Blick in die Meinungsumfragen deutet darauf hin, dass sich die Italiener zunehmend von Europa abgewandt haben. Bei einem Gründungsstaat der EU, der nach dem Brexit zur Nummer Drei in Sachen Wirtschaftskraft und Bevölkerung wird, ist dies alles andere als trivial.

Im italienischen Wahlkampf stehen sich neben vielen kleineren Parteien drei große Blöcke gegenüber: Die Mitte-Links Koalition angeführt durch die Demokratische Partei (PD), die Mitte-Rechts Koalition angeführt von Forza Italia (FI) und der Lega, sowie die euroskeptische Fünf-Sterne-Bewegung (M5S), die sich der Einordnung auf dem Rechts-Links Schema entzieht. M5S ist aktuell mit fast 30% die stärkste Partei. Die stärkste Koalition ist aber Mitte-Rechts mit ca. 37%.

* Die Partei Liberi e Uguali (LeU, deutsch: „Frei und Gleich“) ist eine Allianz von mehreren linken Parteien und Bewegungen (u. a. Sinistra Italiana, Movimento Democratico e Progressista, Possibile). Die LeU wurde erst im Dezember 2017 gegründet, weshalb hier keine früheren Umfragewerte aufgelistet werden. Quellen: Diverse Meinungsforschungsinstitute, eigene Berechnungen

Rechnet man die Umfrageergebnisse der eher euroskeptisch auftretenden Parteien zusammen (M5S, Lega, Brüder Italiens), dann vereinen diese rund 50% der Stimmen auf sich, wobei M5S und Lega gegebenenfalls sogar nur zu zweit auf eine Mehrheit kämen. Auch wenn solche euroskeptischen Allianzen höchst unwahrscheinlich sind, so wird doch deutlich, warum manche Medien oder Beobachter vor einem euroskeptischen Block mit desaströsen Konsequenzen für die EU warnen.

Wie ist der italienische Euroskeptizismus zu bewerten? Wie lässt sich die Abkehr von der EU erklären? Und welche Koalitionsoptionen gibt es nach dem 4. März 2018?

Euroskeptizismus: ein junges Phänomen

Bis in die 2000er hinein waren die Italiener begeisterte Anhänger der europäischen Idee. In den letzten Jahren ist diese positive Einstellung allerdings einem immer stärker werdenden Euroskeptizismus gewichen. Während im Frühjahr 2007 noch 58% der Italiener angaben, der EU zu vertrauen/eher zu vertrauen, waren es im Herbst 2017 nur noch 34% – das ist der viertniedrigste Wert in der Europäischen Union. Viele Italiener sehen in der EU-Mitgliedschaft ihres Landes aktuell keinen Mehrwert. In einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung vom Sommer 2017 gaben 34% der befragten Italiener an, dass bei der EU-Mitgliedschaft ihres Landes „die Nachteile überwiegen“ (in Deutschland sind 10% dieser Ansicht). 48% empfinden die EU als „ungerecht“ (Deutschland: 32%).

Die EU-Skepsis der Italiener ist kein tief verwurzeltes, und somit ein potentiell reversibles Phänomen

Trotz des rapiden Anstiegs des Euroskeptizismus sollte man keine voreiligen Schlüsse ziehen: Im Gegensatz zu Ländern wie dem Vereinigten Königreich ist die EU-Skepsis der Italiener kein tief verwurzeltes Phänomen. Wie wir weiter unten noch ausführen werden, ist sie vielmehr eine Folge der multiplen Krisen der EU – und somit ist der noch junge Euroskeptizismus in Italien ein potentiell reversibles Phänomen. Die grundsätzlich positive Einstellung zur Einigung Europas zeigt sich zum Beispiel daran, dass 65% der Italiener weiterhin „mehr gemeinsame Politik“ in der EU befürworten.

Dass die Italiener (noch) nicht mehrheitlich strukturell EU- oder Euro-feindlich sind, spiegelt sich auch in den Positionen der Parteien im Wahlkampf wider. Keine Partei vertritt offen europhobe Positionen und spricht sich für einen EU-Austritt aus. M5S und Lega haben ihre Forderungen nach einem Referendum zum Euro-Austritt im Vorfeld der Wahl deutlich relativiert. Gerade bei M5S, die sich als regierungsfähig und glaubwürdig präsentieren möchte, wurde ein solches Referendum sogar zur Ultima Ratio deklariert, die es zu vermeiden gilt. Doch obwohl europhobe Positionen in den Hintergrund treten, prägt die Kritik an der derzeitigen Verfasstheit der EU den ohnehin turbulenten Wahlkampf.

Die EU als Symbol für „Krise“

Zwei Politikfelder stehen im Zentrum der Kritik: der als Diktat aus Brüssel empfundene Sparkurs und die als mangelnde Solidarität wahrgenommene Haltung der EU und vieler Mitgliedstaaten in der Migrationskrise. Die Kritik zieht sich durch fast alle Parteien, auch wenn deren Intensität sowie abgeleitete Reformvorschläge variieren.

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Ein vom Norden diktierter Sparkurs? Die mentale Verknüpfung zwischen der EU, dem Sparkurs und der langanhaltenden ökonomischen Krise ist in Italien allgegenwärtig. Laut der oben bereits genannten Erhebung der Friedrich-Ebert-Stiftung assoziieren 59% der Bevölkerung mit der EU „sinkenden Wohlstand“ und fast zwei Drittel (63%) eine „unsichere Währung“. Die Mehrheit der italienischen Politiker sieht die EU und den institutionellen Rahmen der Währungsunion in der Mitverantwortung für die schwache wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre. Angesichts eines Bruttoinlandsprodukts, das seit 1999 real kaum gewachsen ist und einer öffentlichen Schuldenstandquote von über 130% des BIP ist die Suche nach Schuldigen nicht verwunderlich.

In Italien ist die Kritik an den wirtschaftlichen Auflagen der EU grundsätzlich mit einer positiven Haltung zur EU vereinbar

Im Zentrum der Kritik an der EU steht der Streit um die Fiskalpolitik und die entsprechenden europäischen Regeln. Linke wie rechte, populistische wie nicht-populistische Parteien fordern im Wahlkampf die Aufweichung oder gleich das Ende des Regelwerks, wobei sich die Debatte vor allem um den intergouvernementalen Fiskalpakt und nicht um den eigentlich wichtigen Stabilitäts- und Wachstumspakt dreht. Der Fiskalpakt ist längst zum Symbol für die Ausgabendisziplin geworden, die Italien vermeintlich von der EU aufgezwungen wurde. Dieses vereinfachende Narrativ kaschiert zwei Kernherausforderungen der italienischen Wirtschaft, die vor allem im Hinblick auf den erwarteten Anstieg der Zinsen im Euroraum an den Märkten Misstrauen auslösen könnten. Die erste ist die hohe Staatsverschuldung, die deutlich über der zulässigen Grenze von 60% liegt. Die zweite ist die immer noch schwelende Krise der Banken.

Gleichwohl fordern fast alle Parteien ein Ende der Sparpolitik sowie eine Erhöhung der Staatsausgaben. Dies wird mit einer Vielzahl von Wahlversprechen flankiert, die je nach politischer Verortung variieren. Die Mitte-Rechts-Koalition verspricht zum Beispiel massive Steuersenkungen (die Lega will eine Flat Tax von 15%, Forza Italia von 23%) und eine Verdopplung der Mindestrente von derzeit 500 auf 1.000 Euro. M5S wiederum hat im Falle eines Wahlsiegs die Einführung eines Grundeinkommens zur Existenzsicherung angekündigt. Gemein ist diesen Versprechen, dass ihre Realisierung vermutlich einen verschärften Konflikt mit der EU-Kommission und den europäischen Partnern nach sich ziehen wird, weil damit die Staatsausgaben über die erlaubte Grenze steigen würden.

In Italien ist die Kritik an den wirtschaftlichen Auflagen der EU grundsätzlich mit einer positiven Haltung zur EU vereinbar. Dies zeigt sich vor allem bei den Mitte-Links Parteien, die zwar klar proeuropäisch sind, die Auflagen in ihrer jetzigen Form jedoch ablehnen. Etwas anders sieht es bei den Parteien rechts der Mitte aus. Gerade die Lega und die Brüder Italiens verkaufen die Kritik am Fiskalpakt als notwendige Verteidigung nationaler Souveränität. So bleibt die Wiedererlangung der „monetären Souveränität“ trotz der zuvor erwähnten Relativierung der Position weiterhin ein mittel- bis langfristiges Ziel der Lega. Entsprechende Äußerungen wie auch solche zur Einführung der Lira als Parallelwährung bilden derzeit eine eher vage Drohkulisse.

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Allein gelassen in der Migrationskrise: Ein weiteres Thema, dass in den Köpfen vieler Italiener eng mit der EU verknüpft ist, ist die Einwanderung. Die Zahl der Neuankünfte ist in den vergangenen Monaten aufgrund kontroverser Deals mit dem Haupttransitland Libyen deutlich gesunken. Dennoch bleibt der Eindruck, dass Italien überproportional viele Migranten aufgenommen habe und bei dieser Aufgabe von den Europäern allein gelassen wurde. Der Ruf nach mehr europäischer Solidarität in Form von finanzieller Unterstützung sowie einer verbindlichen Umverteilung von Asylbewerbern verbindet daher weitestgehend die politischen Lager.

Darüber hinaus variieren die Ansichten der Parteien bei diesem wichtigen Wahlkampfthema jedoch stark. Die Parteien im linken Spektrum fordern mehr Solidarität, stehen aber grundsätzlich für eine eher offene Aufnahmepolitik. Im rechten Lager setzt man stärker auf Sicherheit und Abschottung. Dies gilt vor allem für die Lega, die sich am Höhepunkt der Flüchtlingskrise für die Aussetzung des Schengener Abkommens und die Wiedereinführung von Grenzkontrollen stark gemacht hat. Auch wenn Schengen im Wahlkampf weniger unter Beschuss steht, fallen Lega-Politiker regelmäßig mit xenophoben und anti-muslimischen Parolen auf. Zuletzt sorgte Attilio Fontana, ein prominenter Lega-Kandidat, mit der Warnung, dass die Migration zum „dem Aussterben der weißen Rasse“ führen werde, in Brüssel und Italien für Aufruhr. Die Fünf-Sterne-Bewegung, die sich als Partei jenseits von links und rechts präsentiert, ist laut Programm deutlich moderater. Dennoch springt sie im Diskurs gelegentlich auf den rechtspopulistischen Zug auf.

Koalitionspoker: Vier Optionen

Die Turbulenz des Wahlkampfs könnte sich nach dem 4. März in einem Koalitionspoker fortschreiben. Italien wählt das erste Mal nach einem neuen Wahlrecht, das Mehrheits- und Verhältniswahlrecht kombiniert: 37% der Sitze werden nach einfacher Mehrheit in den Wahlkreisen vergeben und die restlichen 63% über Verhältniswahlrecht. Das neue Wahlsystem begünstigt die Koalitionsbildung: 40% der Stimmen sollten für die Regierungsbildung reichen. Doch noch zeichnen sich wie oben gezeigt in den Umfragen keine klaren Gewinner ab. Ein Erfolg der Mitte-Links Koalition, die wohl am pro-europäischsten wäre, erscheint momentan unrealistisch.

Wahrscheinlicher wäre eine Mitte-Rechts Koalition. Es wäre nicht das erste Mal, dass FI mit den Rechtspopulisten koaliert. Doch das Machtgleichgewicht hat sich deutlich zugunsten der Lega verschoben. Der Streit um die Vormachtstellung, der sich im Wahlkampf abzeichnet, könnte der Koalition zum Verhängnis werden. Sollte sie dennoch zustande kommen, wäre eine Verschärfung des italienischen Kurses in der europäischen Migrations- und Wirtschafspolitik zu erwarten.

Eine zweite Option wäre eine große Koalition geführt von PD und FI, gegebenenfalls unter Einbindung kleinerer Parteien. Beide Parteien müssten in diesem Fall ihre Koalitionsversprechen brechen, was zu einem Glaubwürdigkeitsproblem führen könnte. Bei der Europapolitik wären zunächst keine radikalen Wendungen zu erwarten. Allerdings könnte auch ein Silvio Berlusconi, der im Hintergrund die Fäden zieht, für Überraschungen auf dem europäischen Parkett sorgen. Im Sommer 2017 war es nicht zuletzt er, der die Diskussion über die Einführung einer Parallelwährung befeuerte.

Eine dritte Option wäre eine flexible Allianz rund um M5S. Koalitionsvereinbarungen mit den etablierten Parteien, die sie als „korrupte Kaste“ verurteilt, hat M5S zunächst ausgeschlossen. Als stärkste Partei mit rund 30% könnte sie dennoch Anspruch auf die Regierungsbildung erheben. Die Bewegung zeigte sich zuletzt offen für die flexible Kooperation nach der Wahl mit Parteien, die sich auf ihr Programm einlassen – zu gerne möchte sie unter Beweis stellen, dass sie eine ernsthafte politische Kraft geworden ist, die der Regierungsverantwortung gewachsen ist. Eine Duldung durch die Lega oder Liberi e Uguali (eine linke Abspaltung der PD) wäre demnach denkbar.

Eine euroskeptische Allianz zwischen der M5S und der Lega wäre zweifelsohne ein schwieriger Partner in Brüssel. Allerdings würde dies voraussetzen, dass man sich inhaltlich einig wird. Da die Wähler der Fünf-Sterne-Bewegung sich mehrheitlich links einordnen, ist dies alles andere als selbstverständlich. Zudem müsste der Staatspräsident der Bewegung als aussichtsreichste Partei das Mandat zur Regierungsbildung erteilen. Die Wahrscheinlichkeit einer euroskeptischen Front ist somit gering.

Option vier, die angesichts der unklaren Mehrheitsverhältnisse immer wahrscheinlicher erscheint, ist eine Übergangsregierung. Die jetzige Regierung bliebe bis zu Neuwahlen geschäftsführend im Amt. Um weitere Pattsituationen zu vermeiden, könnte in der Übergangsphase eine erneute Wahlrechtsreform eingeleitet werden, die stärker auf Mehrheitswahlrecht setzt. In der Europapolitik wäre vorerst kein Kurswechsel zu erwarten. Allerdings böte eine verlängerte Pattsituation mit Übergangsregierung auch neuen Nährboden für Politikverdrossenheit.

Ausblick

Nach dem 4. März muss sich Europa möglicherweise auf eine längere Phase der Unsicherheit in Italien einstellen. Monate ohne eine sprechfähige Regierung könnten den ohnehin knappen Zeitplan für EU-Reformen durcheinander bringen. Eine gewisse Unsicherheit bliebe aber eventuell auch nach einer Regierungsbildung bestehen. Jede neue italienische Regierung müsste mit den europäischen Partnern einen Kompromiss zur Vollendung der Bankenunion finden und den Märkten mit vertrauensbildenden Maßnahmen signalisieren, dass Italien für einen Zinsanstieg gewappnet ist. Reformen in der europäischen Wirtschafts- und Migrationspolitik dürften bei einer Regierungsbeteiligung euroskeptischer Parteien komplizierter werden. Gleiches gilt für Durchführung von – wie auch immer gearteten – Strukturreformen.

Klar ist aber, dass die anderen Europäer mit jeder italienischen Regierung konstruktiv zusammenarbeiten müssen. Daher gilt es die Bedenken der Italiener, die sich oftmals quer durch die politischen Lager ziehen, ernst zu nehmen. Ziel sollte sein, dass der schwelende Euroskeptizismus sich in diesem wichtigen Mitgliedstaat a) nicht in den Köpfen verfestigt und b) nicht in Europhobie umschlägt.

 

Zu den Autoren:

Nicole Koenig ist Wissenschaftlerin und stellvertretende Forschungsleiterin am Jacques Delors Institut – Berlin und beschäftigt sich mit aktuellen politischen und institutionellen Herausforderungen der EU. Auf Twitter: @Nic_Koenig

Paul-Jasper Dittrich ist als Wissenschaftler am Jacques Delors Institut – Berlin im Forschungsbereich Digitales Europa tätig. Seine inhaltlichen Forschungsschwerpunkte sind dabei die Zukunft von Arbeit und Skills, europäische Digitalregulierung sowie der Wandel von Öffentlichkeit und Politik in der EU durch das Internet und soziale Medien. Auf Twitter: @paul2jasper

 

Hinweis:

Dieser Beitrag ist zuerst auf im Blog des Jacques Delors Instituts – Berlin veröffentlicht worden. Die Rechte verbleiben beim Jacques Delors Institut.