Fremde Federn

Tourismus-Kritik, Degrowth-Debatte, Soviet America

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Was hinter den Protesten gegen einen stetig steigenden Touristenstrom steckt, wieso das Stromnetz bald in Speicherkapazität schwimmen wird und warum die Degrowth-Debatte zu nichts führt.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst Forum (früher piqd) eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. Formum.eu versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Warum chinesische E-Autos nicht die Welt übernehmen werden

piqer:
Rico Grimm

Heißes Thema, viele Emotionen, die schon mal in apokalyptischen Posts münden können: das Schicksal der westlichen Autoindustrie angesichts der chinesischen E-Auto-Dominanz.

Kyle Chan argumentiert in seinem Post die ganze Sache nüchtern durch und es zeigt sich, dass es vielleicht auch noch in 15 Jahren eine florierende deutsche Autoindustrie geben kann. Allerdings muss sie dafür jetzt die richtigen Schlüsse ziehen, so Chan.

Drei Argumente führt er an (und belegt sie im Text gut):

  • Westliche Autobauer können die gleichen Lieferketten nutzen wie ihre chinesischen Konkurrenten. Die Zulieferer wollen an VW & Co verkaufen.
  • Sie können weiterhin Partnerschaften eingehen. Vor allem mit chinesischen Batteriefirmen.
  • Autos sind Imagemaschinen. Welches Auto man fährt, spiegelt die eigenen Vorlieben und es ist nicht klar, dass chinesische Autos es schaffen, eine entsprechende Reputation aufzubauen. Ein Mercedes bleibt ein Mercedes.

Chans Fazit:

Ich erwarte, dass die chinesischen Hersteller von Elektrofahrzeugen in Zukunft eher so aussehen werden wie die japanischen Hersteller heute: sehr erfolgreich, aber nicht allmächtig.

Wohin entwickelt sich unser Sozialsystem?

piqer:
Thomas Wahl

Es wird beträchtlich teurer (nicht nur) für die Arbeitenden:

Eine neue Studie beziffert das mögliche Ausmaß. Bis zum Jahr 2035 könnten die Beiträge der verschiedenen Versicherungszweige insgesamt um 7,5 Punkte auf 48,6 Prozent steigen, wie die Studie zeigt, …… Das Berliner IGES-Institut hatte im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit die Beitragsentwicklung bei der Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung berechnet, wie sie aus heutiger Sicht naheliegend erscheint.

Damit wäre es nicht möglich, die Sozialabgaben wie politische angekündigt auf 40 Prozent zu deckeln. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV). Er prophezeit einen sprunghaften Anstieg des Gesamtbeitragssatzes zur Sozialversicherung in den kommenden zehn Jahren:

Schon für das Jahr 2035 sei mit einer Belastung von 51 Prozent des Bruttolohns zu rechnen, heißt es in einer neuen Berechnung des PKV-Verbands, die der F.A.Z. vorliegt. Derzeit summieren sich die Beitragssätze aller Sozialversicherungszweige auf 40,9 Prozent. Das ist schon jetzt mehr als die bis vor einigen Jahren gültige politische „Sozialgarantie“ von 40 Prozent.

Berechtigt warnen beteiligte Wissenschaftler vor einem gefährlichen Teufelskreis für das deutsche Sozialsystem, das sich damit auf einen „Kipppunkt“ zubewege.

Wörtlich heißt es in ihrem Gutachten: Ein Beitragsanstieg auf 50 Prozent sei „allerdings ein hypothetisches Szenario, denn durch die steigenden Beitragssätze würde ein Kipppunkt erreicht, bei dem die junge Generation den Generationenvertrag einseitig aufkündigen und sich entweder in Schwarzarbeit oder Auswanderung verabschieden wird.“ Wenn aber der Beitragsanstieg mehr Menschen aus der beitragspflichtigen Beschäftigung in andere Erwerbsformen treibe, werde sich der Anstieg der Beitragssätze für die verbleibenden Arbeitnehmer noch stärker beschleunigen.

Wie das iwd am Beispiel der Rentenpolitik deutlich macht, steckt heute dahinter durchaus auch Kalkül. Würde doch eine Plateaubildung oder gar eine Kürzung besonders die Versorgungsinteressen der Älteren treffen. Und da besonders die Rentner. Schon gegenwärtig sind mehr als die Hälfte der Wähler älter als 50. Der Anteil der über 67-Jährigen an allen Wahlberechtigten wird in Deutschland voraussichtlich von 24 Prozent im Jahr 2022 auf 31 Prozent im Jahr 2070 wachsen. Allein für die Renten heißt das:

Ein dauerhaft fixiertes Sicherungsniveau – wenn auf steuerliche Zuschüsse verzichtet wird – ist aber nur durch steigende Beiträge zu finanzieren. Der heutige Beitragssatz von 18,6 Prozent dürfte folglich auf 22,3 Prozent im Jahr 2035 steigen – 1 Prozentpunkt höher als ohne das Rentenpaket II.

Der demographische Wandel wird in jedem Fall auf das Rentenniveau und andere Sozialsysteme durchschlagen:

Heute stehen je 100 Beitragszahlern 52 Rentner gegenüber, in anderthalb Jahrzehnten werden es voraussichtlich 63 sein – auf Rentner und Arbeitnehmer verteilt. Die einen müssten sich mit geringeren Rentenanpassungen zufriedengeben, die anderen höhere Rentenbeiträge zahlen. Das Rentenpaket II soll nun aber gewährleisten, dass die Renten auch künftig in gleichem Maß steigen wie der Durchschnittsverdienst, das Sicherungsniveau also bei 48 Prozent verharrt. Die Politik suggeriert damit, das Armutsrisiko im Alter zu verringern.

Der Erfolg ist fraglich, ein weiterer Verlust an Vertrauen in das demokratische System und seine Politik ist vorprogrammiert. Schöne Zukunft …

Die Klimakrise verschärft die Wohnungskrise

piqer:
Ole Wintermann

Das verkürzt „Heizungsgesetz“ genannte Ansinnen, unsere Heizungen mit staatlicher Unterstützung von den fossilen Energieträgern unabhängig gemacht, wurde ja durch liberale und konservative Parteien genutzt, um den dahinter stehenden Klimaschutz als Gefahr für den „Wohlstand“ zu framen.

In den USA kann man schon ein Jahren beobachten, wie das Gegenteil von Heizen, also das Kühlen im Sommer, immer mehr Menschen weiter in die Armut treibt. Hohe Stromrechnungen und hohe Anschaffungskosten für Klimaanlagen kommen zu der auch in den USA herrschenden Wohnungskrise als Armutsfaktoren hinzu. Die Bundesregierung hat inzwischen Regelungen beschlossen, um die Stromrechnungen für Klimaanlagen bei Einkommensschwachen zu übernehmen. Öffentliche Kühlräume müssen eingerichtet werden, um die Folgen schlecht gedämmter privater Immobilien in heißen Sommern abzufedern. Schlecht gedämmt sind diese zumeist aufgrund fehlender baulicher Regulierungen.

Kommt euch das alles bekannt vor? Die Klimakrise lässt bereits unseren „Wohlstand“ dadurch bröckeln, dass die Anpassungskosten – individuell und für die Gesellschaft als Ganzes – ansteigen. Wieso unternehmen wir nichts, um dagegen anzugehen? Vielleicht, weil es wieder erstmal „nur“ die Schwächsten trifft?

„Humble told me that we talk about how sharply smoking increases lung cancer risks, up to 3,000 percent according to government statistics. But, he added, “being homeless increases your chance of dying from heat in Phoenix by 50,000 percent.”

Wer erklärt diese simplen ökonomischen Fakten und Zusammenhänge den VertreterInnen liberaler und konservativer Parteien in Deutschland?

Klimakrise: Warum die Degrowth-Debatte zu nichts führt

piqer:
Ralph Diermann

Brauchen wir Degrowth, um die Klimakrise in den Griff zu bekommen? Der Volkswirt Mauricio Vargas, bei Greenpeace als Finanzexperte tätig, ist skeptisch: Damit hänge man in einem ähnlichen, nur spiegelbildlichen Gedankenkonstrukt wie die Wachstumsdogmatiker. So argumentiert er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, das in der meist sehr unterhaltsamen und mitunter äußerst interessanten Serie „Reden wir über Geld“ erschienen ist.

Die Degrowth-Debatte führt zu nichts, so Vargas – vielmehr sollten wir bei der Gestaltung der Bedingungen unseres Wirtschaftens von den planetaren Belastungsgrenzen ausgehen. Daraus ließen sich die verbleibenden Handlungsspielräume ableiten. Ob innerhalb dessen dann noch Wachstum möglich ist, lässt sich heute nicht sagen. Er erklärt:

„(…) wirtschaftlich zu wachsen oder zu schrumpfen ist kein Selbstzweck, sondern es geht darum, den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen, mit intakten ökologischen Grundlagen.“

Der Greenpeace-Experte ist überzeugt, dass Unternehmen gut mit solchen Restriktionen umgehen können – es ist schließlich ein Erfolgsrezept des Kapitalismus, unter jedweden Bedinungen schöpferische Kraft zu entfalten.

Bleibt natürlich die soziale Frage: Wer trägt die zusätzlichen Kosten, die entstehen, wenn die Handlungsspielräume kleiner werden? Vargas plädiert dafür, die Transformationskosten über eine ökologisch begründete Vermögenssteuer zu finanzieren. Denn:

„Schließlich steckt hinter den hohen Vermögen von heute, die extrem konzentriert sind (…), eine immense ökologische Schuld.“

Krise des Konservatismus oder des progressiven Lagers?

piqer:
Ole Wintermann

Ein Blick in diesen Debattenbeitrag in der New York Times zeigt auf, welche Debatte wir in Deutschland vielleicht ab und an führen sollten – jenseits des „Heizungshammers“, des Genderns oder des Kampfes zwischen Befürwortenden des Alkohols versus des Cannabis. Lasst uns auf die Meta-Ebene schauen. Hat „Wokeness“ oder anders formuliert, der Ansatz, sich Gedanken über das Wohlergehen von Menschen zu machen, deren Interessen nicht im männlich-weißen Mainstream in der Politik stattfinden, ihren Höhepunkt überschritten? All diese Fragen stellt sich derzeit das US-Feuilleton unter der Überschrift „Soviet America“.

Wenn die EM im Fußball für die deutsche Mannschaft beendet sein wird, werden wir bemerken, dass die EM nur temporär diese notwendigen Debatten übertüncht hat und wir uns aber nach wie vor diesen Fragen und deren Implikationen für die deutsche Politik stellen müssen. Für AKW und Verbrenner einzutreten, konsequenten Klimaschutz anzulehnen, weiter nach Malle zu fliegen und dies als Freiheit zu titulieren, spiegelt die Angst der konservativen Seele vor Veränderung wider. Auf der anderen Seite des politischen Lagers muss man sich verstärkt der schmerzhaften Realität stellen, dass das Zeitalter der wissenschaftlichen Aufklärung noch nicht in Gänze in der Politik angekommen ist. Können wir an dieser Stelle also aus der US-Debatte etwas lernen?

Das Stromnetz wird in Speicherkapazität schwimmen

piqer:
Dominik Lenné

Ich hatte hier kürzlich einen optimistisches Video über Akkus – genauer Natrium-Ionen-Akkus – gebracht und will nun noch einmal in dieselbe Kerbe hauen. Der Autor Auke Hoekstra ist Experte für das niederländische Stromsystem (und auf X bekannt für seine Debunking-Artikel zu E-Autos). In diesem Text entwirft er die Vision eines Stromsystems, das durch Allgegenwart billiger Akkus eine gleichmäßige und sichere Stromversorgung zur Verfügung stellt.

Zunächst verlängert er die Kostenverminderung und Produktionssteigerung je KWh, die er der jüngsten IEA-Studie zu Batterien entnommen hat, in die Zukunft und kommt zu dem Schluss, dass wir 2030 Speicherkapazität für grob geschätzt 10 €/kWh kaufen können – nicht zuletzt, weil die Materialkosten von natriumbasierten Akkus so niedrig sind.

Das kann eine ganze Menge Probleme lösen. Wenn es wie abgeschätzt eintritt, bedeutet das Folgendes:

  • Wir beobachten im Sommerhalbjahr zunehmend tagsüber ein starkes Überangebot an Strom, verbunden mit extrem niedrigen, teilweise sogar negativen Strompreisen. Das ist ungünstig, weil es die Einnahmekalkulation der Solarkraftwerke ruiniert: wenn sie am meisten produzieren, ist der Preis am geringsten. Mit Akkus kann diese Überproduktion in die Abend- oder auch Morgenstunden geschaufelt werden. Die Batterien verdienen ihr Geld dabei mit Arbitrage, d.h. sie kaufen bei niedrigem, verkaufen bei hohem Strompreis. Je billiger die Batterien selbst sind, desto kleinere Preisdifferenzen können sie ausgleichen. Viele Batterien sorgen also dafür, dass Solar- und Windstrom ökonomisch funktioniert. In Kalifornien ist diese Vision schon weitgehend Realität – in den dortigen Verhältnissen sind große Speicherwerke auch bei jetzigen Batteriepreisen schon rentabel. (Auch in diesem Post hier auf forum.eu abgehandelt.)
  • Bekanntermaßen ist die Stromtransportkapazität zwischen dem Norden und dem Süden Deutschlands zu klein, so dass eine Menge Windstromerzeugung abgeregelt werden muss. Deshalb gibt es die großen Stromtrassenprojekte, die lange verzögert wurden und nun langsam umgesetzt werden. Des Weiteren ist das Netz auch sonst an vielen Stellen nicht an die Einspeisung aus den großen Solarkraftwerken angepasst – teurer Ausbau tut Not. Mit mehr Batteriekapazität kann man sich einen Teil davon sparen: auf der Erzeugerseite können Erzeugungsspitzen, auf der Verbraucherseite Lastspitzen per Akku aufgefangen werden. Die Energieübertragung wird geglättet und die Transportkapazität des Netzes so deutlich besser ausgenutzt.
  • Dann noch die Stromversorgung bei Dunkelflaute. Sollten Speicher so extrem billig werden, können sie in solchem Umfang aufgestellt werden, dass sie die komplette Stromversorgung für längere Zeit übernehmen können. Diese Aufgabe soll nach der momentanen Planung Gaskraftwerken übertragen werden, die mit elektrolytisch erzeugtem und in Kavernen gespeichertem Wasserstoff arbeiten sollen. Eine Lösung, die hohe Energie-Umwandlungsverluste mit sich bringt, welche bei Verwendung von Akkus nicht auftreten. Diese Möglichkeit ist, wie geschrieben, noch so gut wie nicht in die drei offiziellen Zukunftsstrategien¹  eingegangen, die sich nach Einschätzung des Speicherprojektfirma Kyon Energy sogar gegenseitig widersprechen.

Wir gehen also aller Wahrscheinlichkeit nach einer veritablen Disruption entgegen, die noch kaum jemand auf dem Schirm hat. Gaskraftwerke werden über kurz oder lang ebenfalls abgeschaltet werden. Die an die Mikroelektronik erinnernde Verbilligung der Stromspeicher, die noch vor nicht allzu langer Zeit unvorstellbar war, wird ein dezentrales, deshalb sehr resilientes Stromsystem erzeugen.

——

¹ Die Systementwicklungsstrategie, die Stromspeicher- und die Kraftwerksstrategie.

Überdrehter Tourismus!

piqer:
Jürgen Klute

In vielen Regionen Europas und auch in etlichen Regionen auf den anderen Kontinenten ist Tourismus seit Jahrzehnten ein wichtiger – und oft sogar der wichtigste – Wirtschaftsfaktor. Trotzdem regt sich gerade auch in touristischen Zentrum Widerspruch gegen die Touristenströme. Auf den ersten Blick erscheint das widersinnig. Das ist es aber keineswegs.

Sascha Aumüller und Markus Böhm erklären in ihrem Beitrag für den Wiener Standard, was hinter den Protesten gegen einen stetig steigenden Touristenstrom steckt. Eigentlich, so die beiden Autoren, richtet sich der Protest nicht gegen die Touristen, sondern gegen das heutige Geschäftsmodell des Tourismus. Sie gehen auch auf mögliche Alternativen zum gegenwärtigen Geschäftsmodell ein, die allerdings auch nicht frei von Widersprüchen sind. Klar ist allerdings, dass ein klimaverträglicher Umbau unserer Art des Wirtschaftens den Tourismus nicht ausklammern kann.