Lohnpolitik

Die Gewerkschaften sind die falschen Sündenböcke

Immer wieder wird den Gewerkschaften vorgeworfen, dass sie eine überzogene Lohnzurückhaltung betreiben würden. In der Tat ist die Lohnbildung in Deutschland und vor allem in Europa nicht optimal. Leider ignorieren die Kritiker aber die tarifpolitischen Realitäten. Ein Kommentar von Gustav Horn.

Schlecht verhandelt? Foto: IG Metall Jugend Bayern via Flickr (CC BY 2.0)

Seit einiger Zeit gibt es Ökonomen, die einerseits gewerkschaftliche Lohnverhandlungen für prinzipiell sinnvoll halten, andererseits die Ergebnisse dieser Verhandlungen als unbefriedigend – weil zu niedrig – kritisieren. Hinzu kommt, dass sie insbesondere jene Klauseln in Tarifabschlüssen für problematisch halten, die einzelnen Unternehmen zumindest temporär Spielraum für niedrigere Lohnzuwächse eröffnen. Damit ergibt sich aus ihrer Sicht ein weiterer schädlicher Lohndruck nach unten.

Da die Löhne in Deutschland über einen längeren Zeitraum sowohl im historischen als auch im internationalen Vergleich sehr schwach gestiegen sind, kann diese Kritik nicht von vornherein von der Hand gewiesen werden. Auch vor dem Hintergrund der extrem hohen deutschen Außenhandelsüberschüsse stellt sich die Frage, ob diese nicht durch Lohndumping erreicht wurden und eine der Wurzeln der Krise des Euroraums sind.

Moderate Tarifabschlüsse

Die geschilderte Kritik lässt sich exemplarisch am diesjährigen Tarifstreit in der Metallindustrie illustrieren. Dieser hat zu einem Abschluss geführt, der die tariflich ausgehandelten Löhne in diesem und im kommenden Jahr um knapp 2,5% steigen lassen wird. Genau diese Abschlüsse werden nun als Beispiel überzogener Lohnzurückhaltung seitens der Gewerkschaften kritisiert. Die Qualifizierung als „zu niedrig“ setzt einen eindeutigen Maßstab voraus, nach dem die Lohnabschlüsse „richtig“ wären.

Die Kritik basiert auf einem Maßstab, den man als Beitrag der Lohnpolitik zur gesamtwirtschaftlichen Stabilität oder als makroökonomische Lohnpolitik bezeichnen kann. Dahinter steht die Vorstellung, dass die gesamtwirtschaftliche nominale Lohnentwicklung dem Trend der Produktivitätszuwächse sowie dem Inflationsziel der EZB (knapp 2%) folgen sollte.

Eine gesamtwirtschaftlich orientierte Lohnpolitik

Ersteres sichert, dass sich die Lohnentwicklung einerseits am Zuwachs der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft orientiert und sich die Angebotsbedingungen nicht verschlechtern. Anderseits wird die Beteiligung am Produktivitätszuwachs auch sichergestellt, dass sich die zusätzliche Produktivität auch in einen Kaufkraftzuwachs übersetzt, also die Nachfrage gestärkt wird. Damit wahrt ein solches Vorgehen die Balance zwischen Angebot und Nachfrage. Mit anderen Worten: sie wahrt ein bestehendes Gleichgewicht. Die Zuwächse sollten sich am Trend der Produktivitätssteigerungen orientieren, um deren konjunkturelle Schwankungen in der Lohntendenz zu vermeiden.

Außerdem sollten sich die Löhne laut diesem Konzept an der Zielinflationsrate der EZB ausrichten. Auf diese Weise soll vermieden werden, dass die Lohnentwicklung die gesamtwirtschaftliche Preisstabilität gefährdet.

Durch die Einführung des Euro ist die Wichtigkeit dieser Anforderung noch größer geworden. Innerhalb des Euroraums existiert weder ein nominaler Wechselkurs noch eine gesamtwirtschaftliche und europäische fiskalische Instanz, die ein wirtschaftliches Gefälle zwischen den einzelnen Volkswirtschaften auszugleichen vermag. Somit ist die Stabilität des realen Wechselkurses, also der relativen Preise, zwischen den einzelnen Volkswirtschaften maßgeblich.

Binnenwirtschaftlich betrachtet ist die Lohnpolitik derzeit nahe an ihrer gesamtwirtschaftlichen Zielmarke

Verschiebt sich der reale Wechselkurs zwischen den Volkswirtschaften strukturell, in dem die Preise eines Landes fortwährend schneller steigen als die eines anderen, entsteht ein außenwirtschaftliches Ungleichgewicht mit Vermögensaufbau im abwertenden und Schuldenaufbau im aufwertenden Land. Dass eine solche Situation nicht nachhaltig ist, hat die Krise des Euroraums ab Herbst 2009 in dramatischer Weise gezeigt.

Gemessen an diesem Maßstab sind die jüngsten Abschlüsse in der Tat zu niedrig. Das gilt weniger aber weniger aus binnenwirtschaftlicher, als aus europäischer Perspektive. Binnenwirtschaftlich betrachtet ist die Lohnpolitik derzeit nahe an ihrer gesamtwirtschaftlichen Zielmarke:

Deutschland_Verteilungsspielraum_Lohnkosten_Produtivität_IMK

Dies liegt daran, dass die Produktivitätszuwächse in Deutschland mittlerweile auch im Trend spürbar zurückgegangen sind – folglich bleibt weniger Raum für hohe Nominallohnsteigerungen. Insofern ist die Kritik nach den eigenen Maßstäben der Kritiker ungerechtfertigt.

Anders sieht die deutsche Lohnentwicklung aus europäischer Perspektive aus. Hier reicht es nicht aus, nur die aktuelle Entwicklung zum Maßstab zu nehmen. Die Vergangenheit muss gleichfalls berücksichtig werden, um die langjährige Abwertung zu korrigieren und den realen Wechselkurs auf ein Niveau zu bringen, das den gesamteuropäischen Stabilitätserfordernissen entspricht.

Hier zeigt sich, dass die Preiswirkungen der Lohnentwicklung in Deutschland, die sich über die Lohnstückkosten entfalten, noch längst nicht wieder auf einem Pfad sind, der mit dem EZB-Preisstabilitätsziel in Einklang steht. Dafür müssten die Lohnsteigerungen vermutlich jahrelang merklich höher ausfallen. An dieser Stelle erscheint die Kritik also auf den ersten Blick berechtigt. Die Lohnpolitik in Deutschland hätte demnach nichts dazu beigetragen, den Euroraum zu stabilisieren.

Lohnstückkosten_Entwicklung_Euroraum_EU_Deutschland_IMK

Die überforderte Lohnpolitik

Anhand dieses Befundes stellt sich aber eine viel grundsätzlichere Frage: Ist die Lohnpolitik mit derartig vielen gesamtwirtschaftlichen Aufgaben nicht überfordert?

Die Kritiker scheinen häufig zu vergessen, dass zur Lohnpolitik zwei Seiten gehören

Dies ist schon aus einer rein binnenwirtschaftlichen Sicht so. Die Kritiker scheinen häufig zu vergessen, dass zur Lohnpolitik zwei Seiten gehören: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Letztere widersetzen sich aus ihrem einzelwirtschaftlichen Interesse heraus jeder höheren Lohnforderung – gesamtwirtschaftliche Überlegungen spielen bei ihnen überhaupt keine Rolle. Die „Schuld“ am unbefriedigenden Ergebnis allein den Gewerkschaften aufzubürden, ist also eine sehr asymmetrische Betrachtungsweise.

Hinzu kommen aber noch weitere ökonomische Faktoren. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ist die Verhandlungsposition der Gewerkschaften schwach. Selbst wenn die Arbeitslosigkeit – wie im vergangenen Jahrzehnt – das Ergebnis von Nachfragemangel ist und aus gesamtwirtschaftlicher Sicht hohe Lohnzuwächse sinnvoll wären, sind sie vor diesem Hintergrund nicht zu erreichen. Hier ist und bleibt die Fiskalpolitik gefordert – der private Sektor kann eine solche Krise nicht aus eigener Kraft überwinden.

Es darf zudem nicht übersehen werden, dass auch Gewerkschaften legitime einzelwirtschaftliche Interessen haben. So geht es bei Tarifverhandlungen nicht immer nur um Lohnprozente, sondern häufig auch um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten einer Branche. Diese gewerkschaftlichen Verhandlungserfolge lassen sich eben nicht immer in Gehaltsäquivalente umrechnen. Die Arbeitgeber lassen sich gleichwohl aus ihrer Sicht völlig konsequent jedes qualitative Zugeständnis durch weniger Lohnprozente entgelten. Dies nur als schädliche Lohnzurückhaltung zu sehen, ist eine unvollständige Wahrnehmung.

Strukturelle Tendenzen stehen den gesamtwirtschaftlichen Überlegungen zunehmend im Weg

Viel wichtiger aber noch sind strukturelle Tendenzen, die den gesamtwirtschaftlichen Überlegungen zunehmend im Wege stehen. Da wäre etwa der abnehmende Abdeckungsgrad von Tarifverträgen. Nur noch gut 50% der Beschäftigten haben tarifvertraglich ausgehandelte Branchenlöhne. Die Differenz zwischen den Tariflohnzuwächsen und denen der gesamten Löhne („Lohndrift“) war in der Vergangenheit teilweise beträchtlich. Hierfür können aber die Gewerkschaften nicht verantwortlich gemacht werden.

Hinter der abnehmenden tariflichen Abdeckung verbirgt sich eine aus Sicht der Gewerkschaften gravierende Tendenz – nämlich die zunehmende Heterogenität innerhalb von Branchen. Beispielsweise gibt es in der Automobilindustrie hoch profitable Unternehmen, die ohne weiteres in der Lage wären, deutlich höhere als die vereinbarten Lohnzuwächse zu zahlen. Entlang der Wertschöpfungskette ergeben sich jedoch teilweise gravierende Unterschiede.

So stehen einige Zulieferbetriebe unter dem massiven Druck großer Endproduzenten. Sie vermögen häufig die Preise ihrer Zulieferer, die zudem nicht selten Ausgründungen sind, nach unten zu drücken, was deren Rentabilität beeinträchtigt. Gleiche Lohnsteigerungen für alle würden daher Zulieferer nur deshalb in Schwierigkeiten bringen, weil sie eine schwache Marktposition gegenüber ihrem Endabnehmer haben – und nicht, weil sie z.B. über zu wenig Innovationskraft verfügen. Ihr Ausscheiden aus dem Markt brächte also keinen gesamtwirtschaftlichen Vorteil – im Gegenteil.

Die kritisierten Flexibilitätsklauseln, die einzelnen Unternehmen eine verzögerte oder geringere Lohnanpassung ermöglichen, sind eine Reaktion der Gewerkschaften auf diese Problematik. Die Abweichungen können im Übrigen auch nur mit Zustimmung der Gewerkschaften vorgenommen werden. So bleiben die Abweichungen unter Kontrolle, und die Löhne sind weiterhin tariflich vereinbart.

Denn die Drohung oder der Vollzug eines Austritts aus dem Arbeitgeberverband seitens einzelner Unternehmen ist durchaus glaubwürdig. Schließlich ist unter den gegebenen Bestimmungen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen nur sehr beschränkt möglich, da die Verbände der Arbeitgeber zustimmen müssen. Insbesondere mit der Einführung von OT (ohne Tarifbindung)-Mitgliedschaften in den Arbeitgeberverbänden ist dies aber nicht mehr in ihrem Interesse. Unter diesen Umständen haben die Arbeitgeberverbände somit ein hohes Drohpotenzial gegenüber an der Durchschnittsrendite orientierten Lohnabschlüssen, da sie die Gewerkschaften jederzeit mit einer geringeren Tarifabdeckung in Bedrängnis bringen können. Das alles wirkt einer simplen Durchschnittsbildung von Lohnabschlüssen, die zudem ausschließlich gesamtwirtschaftlich orientiert sind, entgegen.

Gänzlich schwierig wird die Übertragung des gesamtwirtschaftlichen Lohnkonzepts auf die europäische Ebene. Während in Deutschland die institutionellen Voraussetzungen für eine gesamtwirtschaftliche Lohnbildung zumindest im Ansatz gegeben sind, fehlt diese Struktur im übrigen Währungsraum in unterschiedlicher Ausprägung zum Teil völlig.

Es bedarf des mühsamen und langwierigen Aufbaus europäischer Lohnverhandlungsstrukturen, um zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen

Unter diesen Umständen eine einer gemeinsamen Regel folgende Lohnbildung zu erreichen, ist bestenfalls auf lange Sicht möglich, unter den gegenwärtigen Gegebenheiten jedoch illusionär. Die Kritik an der mangelnden europäischen Ausrichtung der Lohnentwicklung in Deutschland mag gemessen an den Erfordernissen berechtigt sein, ist aber pharisäerhaft. Es bedarf vielmehr des mühsamen und langwierigen Aufbaus europäischer Lohnverhandlungsstrukturen, um zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen.

Lohnbildung heute

Ohne Zweifel ist die Lohnbildung in Deutschland und erst recht in Europa gemessen an gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen nicht optimal. Die institutionellen Gegebenheiten und die arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen lassen aber auch nichts Anderes erwarten. Es ist wenig fundiert, den Gewerkschaften vor diesem Hintergrund die Schuld für die vermeintlich zu niedrigen Lohnabschlüsse zuzuschieben. Zum einen sind die aktuellen Lohnabschlüsse wie oben gezeigt aus einer binnenwirtschaftlich-gesamtwirtschaftlichen Sicht nicht zu niedrig. Zum zweiten sind die Probleme auf europäischer Ebene zu gravierend, als dass sie allein von den Gewerkschaften gelöst werden könnten. Hier stehen vor allem die Regierungen in der Verantwortung.

Nichtsdestotrotz sind die auch von den Kritikern verwendeten gesamtwirtschaftlichen Kriterien absolut sinnvoll, um die Lohnentwicklung zu beurteilen – nur ist die Nicht-Einhaltung dieser Kriterien eben nicht die alleinige Schuld der Gewerkschaften, wie die Kritiker gerne suggerieren.

 

Zum Autor:

Gustav A. Horn ist wissenschaftlicher Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.