Fremde Federn

Grabenkämpfe, Starkregen, Desinformation

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Was die Grabenkämpfe zwischen Städtern und Bauern anfeuert, warum die regelbasierte internationale Ordnung nicht „sexy“ ist und wer wirklich von der Arbeit im Homeoffice profitiert.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst Forum (früher piqd) eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. Formum.eu versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Die regelbasierte internationale Ordnung ist nicht „sexy“

piqer:
Lars Hauch

Die regelbasierte internationale Ordnung (RBIO) prägt seit den frühen 2000er Jahren die politische Rhetorik des Westens. Auch Außenministerin Baerbock erklärt regelmäßig, sie verteidigen zu wollen. In Zeiten großer geopolitischer Dynamik sollten wir uns mit dem Konzept beschäftigen, findet auch Gideon Rachman in einem Kommentar für die Financial Times.

Die RBIO habe für DurchschnittsbürgerInnen keinerlei Bedeutung und lasse keine Herzen höher schlagen. Menschen würden in den Krieg ziehen, um Freiheit und Heimat zu verteidigen, aber nicht für die RBIO. Rachman kritisiert, dass der Westen an der Erzählung der RBIO festhalte, obwohl er sie selbst untergrabe. Das betrifft amerikanische Zölle gegen China, die WHO-Regeln brechen, oder auch die US-Sanktionsdrohungen gegen den Internationalen Strafgerichtshof wegen der Ermittlungen gegen Benjamin Netanjahu. Oder Vorwürfe aus den USA gegen China, gegen das UN-Seerechtsübereinkommen zu verstoßen, ohne es selbst ratifiziert zu haben.

All das ist nichts neues, aber bekommt in einer multipolaren Welt größere Relevanz und Dringlichkeit. Rachman schlägt recht pragmatisch vor, PolitikerInnen sollten stattdessen das Motiv der „Verteidigung der freien Welt“ betonen. Das sei ehrlicher, weil jene Verteidigung Raum für Inkonsistenz lässt.

Sich vom rhetorischen Fokus auf die RBIO abzuwenden bedeute aber nicht, sich gänzlich von internationalem Recht abzuwenden, betont Rachman. Das würde in Anarchie enden und sei unpraktisch. Und doch seien die Demokratien dieser Welt auf einem moralisch höheren Level als die Autokratien. So wie im frühen 20. Jahrhundert und im Kalten Krieg müssten sich „die Demokratien dieser Welt nicht dafür entschuldigen, ihre freien Gesellschaften skrupellos zu verteidigen“.

Rachmans Rezept ist in den falschen Händen ein Freifahrtschein für Menschenrechtsverbrechen — der „War on Terror“ beispielsweise wurde und wird mit ähnlicher Begründung geführt. Geht es um Freiheit, Demokratie und Wege, sie zu schützen, gibt es allerdings zumindest Raum für kritische Debatte: Wie viel ist zu viel? Die RBIO in ihrer eher bürokratischen Gestalt erlaubt eine solche Debatte kaum.

Eine ehrliche Auseinandersetzung mit der RBIO scheint mir eine gute Idee zu sein. Vielleicht wäre dann die Irritation in Europa über den international ausbleibenden Aufschrei über Russlands Angriff auf die Ukraine einer pragmatischeren Reaktion gewichen.

Was feuert die Grabenkämpfe zwischen Städtern und Bauern an?

piqer:
Silke Jäger

Hier erzählt der Journalist und Chefredakteur der österreichischen Wochenzeitung Falter, Florian Klenk, über seine Lernkurve beim Thema Landwirtschaft.

Das recht lange Interview beginnt mit einer kleinen, alltäglichen Situation, die schon eine Weile zurückliegt: Der Journalist äußerte sich öffentlich zu einem Thema und wird daraufhin in einem Video, das in den sozialen Netzwerken viral geht, beschimpft. Der Wütende ist ein Bergbauer. Er wirft Klenk vor, keine Ahnung von der Landwirtschaft zu haben. Man kennt diese Dynamik.

Doch sowohl Klenk als auch der Bergbauer steigen aus der vorhersehbaren Internetlogik aus. Klenk gesteht sich ein, dass das Urteil des Landwirts stimmt und nimmt die Einladung des Bauern an, ihn auf seinem Hof zu besuchen. Aus dem dreitägigen Landwirtschaftspraktikum Klenks ist inzwischen nicht nur ein Buch entstanden. Die beiden sind auch befreundet.

Von diesem Punkt aus erzählt Klenk im Interview erst einmal etwas darüber, warum Bauern ziemlich oft sehr wütend sind:

Die Milchpreise sind volatil, die Förderungen sind volatil, die eigene Arbeitskraft ist volatil. Der Bauer kann nicht berechnen, wovon er leben muss. Das ist die pure Existenzangst, und dass daraus Wut entsteht, ist nachvollziehbar.

Danach macht Klenk dann aber nicht mit den Forderungen der Landwirte weiter, so wie man es häufig liest und die oft Kopfschütteln auslösen, weil sie so wirken, als wollten sich die Bauern ihre eigene Lebensgrundlagen auch noch selbst zerstören. Dabei ist offensichtlich, dass viele Ziele der grünen Agenda am Ende der Landwirtschaft helfen würden. Trotzdem scheinen die Bauern keinen größeren Feind zu kennen als die Grünen. Klenk benennt diese Widersprüche:

Das wundert mich auch. Eigentlich sollte man erwarten, dass sich der Zorn gegen die Supermärkte wendet, gegen die Schlachtindustrie und auch gegen eine konservative Agrarpolitik, die letztlich die Bauern in diese Situation gebracht hat. Ständig hat diese den Bauern gesagt, dass sie mehr und mehr, immer mehr investieren müssen.

Diese Situation führt dazu, dass die Bauern wie in einem Schachspiel eingesetzt werden können, was den Gegensatz zwischen Städtern (Konsument:innen) und Landbevölkerung immer weiter anheizt.

Der Gegensatz Stadt und Land wird von der Fleisch- und Landwirtschaftsindustrie gerne in Stellung gebracht. Da geht es viel um die „blöden“ Stadtleute, die die Bauern nicht verstehen. Und umgekehrt.

Das Spielfeld dafür sind die öffentlichen Räume, besonders aber Social Media. Dort fallen die gemeinsamen Interessen von Stadt und Land unter den Tisch. Die wenigen Differenzen werden aufgebauscht und das Unverständnis füreinander wächst immer weiter. Das bekommen auch Journalist:innen zu spüren. Klenk erkennt interessante Parallelen. Sie sind in einer ähnlichen Lage wie die Landwirte, findet er.

Es ist sehr lesenswert, welche Schlüsse der Journalist aus der Begegnung mit dem Landwirt für seine eigene Situation im Journalismus zieht und für die Branche an sich.

Erderwärmung und Starkregen – was die Fakten sagen

piqer:
Rico Grimm

Stefan Rahmstorf hat schon vor ein paar Jahren einen sehr guten, für Laien verständlichen Überblick über die Forschungslage geschrieben. Sein Fokus in dem Artikel ist eng, aber wichtig: Regen, der binnen Stunden in großen Mengen herunterfällt. Denn es ist genau dieser Regen, der Fluten auslöst, wie wir sie in den letzten Tagen beobachten konnten.

Drei Erkenntnisse aus dem Text sind zentral:

1. Das Gewitterpotenzial hat deutlich zugenommen. Womit auch das Potential heftiger Regengüsse zugenommen hat.

2. Die Starkniederschlagsmenge zeigt ausschließlich positive Trends. Heißt: Wenn es regnet, regnet es tendenziell heftiger.

3. Es gibt Indizien dafür, dass Wetterlagen viel länger bleiben als früher. Das aber mit Vorsicht genießen; hier fehlen noch Daten.

Dennoch bleibt ein klares Fazit. Die Frage ist nicht, ob eine Flut etwas mit dem Klimawandel zu tun hat. Die Frage ist heute eher, ob eine Flut nichts mit dem Klimawandel zu tun hat. Die Antwort ist immer öfter: nein.

Wer profitiert wirklich von der Arbeit im Homeoffice?

piqer:
Theresa Bäuerlein

Vor vier Jahren sind viele Menschen pandemiebedingt ins Homeoffice umgezogen. Mittlerweile ist Remote Work verbreitet. Und es gibt eine verbreitete Erzählung dazu: Chefs hassen sie – und die Arbeitnehmer:innen lieben sie.

Aber stimmt das?

Eine neue Podcast-Reihe des US-Magazins The Atlantic, „Good on Paper“, zielt darauf ab, populäre Erzählungen in Politik und Medien zu hinterfragen und zu zeigen, dass sie oft auf wackeligen Voraussetzungen beruhen.

In dieser ersten Folge spricht die Moderatorin des Podcasts, Jerusalem Demsas, mit Natalia Emanuel, einer Arbeitsökonomin bei der Federal Reserve Bank of New York,  die umfangreiche Forschungen zur Remote Work durchgeführt hat. Sie fand unter anderem heraus, wie Fernarbeit sich auf verschiedene demografische Gruppen auswirkt. Vor allem jüngere Mitarbeiter und Frauen profitieren demnach erheblich von persönlichem Feedback.

Weibliche Ingenieure erhalten etwa 40 Prozent mehr Kommentare zu ihrem Code als unsere männlichen Ingenieure, was einen Effekt ergibt, der etwa doppelt so groß ist wie bei männlichen Ingenieuren insgesamt.

Fernarbeit kann zwar die Produktivität von leitenden Angestellten steigern, behindert aber möglicherweise die berufliche Entwicklung jüngerer Mitarbeiter:innen.

 Ein Sechstel aller Fähigkeiten, die man im Laufe seines Lebens erwirbt, kommt von Kollegen.

Emanuels Ergebnisse stellen einige frühere Studien infrage, wie etwa die Studie von Nicholas Bloom von Jahr 2015, die Produktivitätsgewinne durch Fernarbeit in einem chinesischen Callcenter aufzeigte. Emanuel vermutet, dass diese Diskrepanzen auf Unterschiede in der Art des Arbeitsplatzes und die Freiwilligkeit der Fernarbeit in Blooms Studie zurückzuführen sein könnten.

Argentinien und sein Präsident Milei aus Sicht eines Großbauern

piqer:
Thomas Wahl

In Europa blicken wir mit viel Unverständnis auf Argentinien und seinen Präsidenten Milei (der „Anarchokapitalist“ mit der Kettensäge im Wahlkampf). Die NZZ bringt ein langes Interview zur Lage im Land mit einem argentinischen Großbauern namens Christian Zweifel.

Dessen Familie hat Schweizer Wurzeln. Interessanterweise gibt es in Argentinien zahlreiche Bauern mit Schweizer Pässen. Sie halten 850.000 Hektaren in ihrer Hand und sind damit nach Farmern aus den USA, Italien und Spanien die größten ausländischen Investoren in der argentinischen Landwirtschaft. Und Argentiniens Landwirtschaft ist die wichtigste Devisenquelle des Landes und gleichzeitig mit etwa 70 Prozent Steuern auf Exporte, Gewinne sowie Finanztransaktionen auch eine gewichtige Quelle für den Staatshaushalt. Die Landwirte haben demnach, so Christian Zweifel, den Populismus der peronistischen Vorgängerregierungen bezahlt. Er meint: „Milei ist trotz seiner Extravaganz kein Verrückter“.

Milei setzt auf einen Kulturwandel in der Bevölkerung, die daran gewöhnt ist, dass der Staat ihre Probleme löst. Hier in Argentinien galt unter den peronistischen Regierungen die Ideologie, dass dort, wo ein Bedürfnis besteht, auch ein Recht vorhanden ist. So ist der alles umfassende Populismus entstanden. …. Milei sagt jetzt, dass die Menschen ihre Probleme mit minimaler staatlicher Einmischung selbst lösen müssen. Er ist zutiefst von seinen liberalen Ideen überzeugt und setzt genau das um. Es heisst ja: Der Unterschied zwischen einem Verrückten und einem Genie ist der Erfolg. Das gilt auch für Milei.

Der Farmer hofft, das Milei ausländische Investoren und auch das auf ausländischen Konten lagernde beträchtliche Vermögen der Argentinier zurück ins Land holt. Er sieht dort großes Potential:

Die Internetkonzerne sind interessiert an den Lithium- und Kupfervorkommen in Argentinien. Wenn auch nur ein paar dieser Unternehmer hier investieren, dann wäre das doch schon ein Gewinn. Ausserdem sind es die Argentinier selbst, die am meisten Geld im Ausland auf Sparkonten haben. Es heisst, das Gesparte sei so gross wie das Bruttoinlandprodukt. Wenn davon etwas investiert wird, würde das viel verbessern. Gerade habe ich von meiner Hausbank in Argentinien per Whatsapp ein Angebot für Dollaranleihen mit guten Zinsen bekommen. Damit will die Regierung die Dollarbesitzer überreden, ihr Geld im Land anzulegen.

Unklar ist, wie lange die Bürger Milei noch unterstützen werden. Die Inflation sinkt zwar, ist aber mit 280% im Jahr immer noch die höchste der Welt. Die Wirtschaft wird gleichzeitig wahrscheinlich dieses Jahr um voraussichtlich 2,5 Prozent schrumpfen. Die Arbeitslosigkeit steigt. Mehr als die Hälfte der Argentinier leben in Armut. Dazu Christian Zweifel:

Auf dem Land, in den wichtigen Agrarregionen, gibt es keinen Hunger. Wir sagen, solange die Menschen nicht auf die Felder gehen, um den Mais einzusammeln, der vom Mähdrescher gefallen ist, so lange gibt es hier keinen Hunger. Wie lange die Unterstützung für Milei anhalten wird, das ist die Schlüsselfrage: Wenn er es schafft, die Inflation so zu kontrollieren, dass ein normaler Argentinier mit seinem Gehalt bis am Monatsende über die Runden kommt, dann hat er gewonnen.

Und vor  allem junge Menschen setzen auf Milei. Die sehen, dass ihre Eltern das ganze Leben hart gearbeitet, aber es nie zu etwas Wohlstand gebracht haben.

Die Familien können nicht das Auto wechseln und nicht mehr in den Urlaub fahren. Und die jungen Leute finden keinen Job, ganz zu schweigen davon, dass sie nie ein Auto oder Haus besitzen werden oder dafür eine Hypothek aufnehmen können. Und gleichzeitig reden linke Populisten wie die Kirchners immer über den verstorbenen Präsidenten Juan Perón und seine Frau Evita. Was haben die noch mit uns zu tun, das ist vorbei und erledigt!, sagen die Jugendlichen heute. Und genauso konnte ein Phänomen wie Milei entstehen, das vor allem von jungen Menschen getragen wird.

Es ist schwierig, von Europa aus die Lage in dem südamerikanischen Land zu beurteilen. Viele Meinungen in den Medien sind durch die europäisch getönte Brille der Berichterstatter gefiltert. Insofern ist es m.E. anregend, diese Einschätzung eines Insiders zur Kenntnis zu nehmen. Vielleicht ist nach Jahrzehnten der Korruption, der Misswirtschaft und des politischen Populismus der Peronisten das verrückt erscheinende ein Anstoß zum Neuanfang?

Ein Manifest zum Umgang mit Desinformation

piqer:
Jannis Brühl

Pünktlich zur Europawahl: Vier Forscher, die sich mit Propaganda und Desinformation beschäftigen, legen in diesem programmatischen Artikel in Foreign Affairs dar, wie demokratische Gesellschaften, ihre Politiker und Medien mit der berüchtigten verdeckten Einflussnahme auf politische Debatten umgehen sollen.

Ihre wichtigsten Takeaways:

  • Am wichtigsten ist ihnen zufolge, nicht in Alarmismus zu verfallen: Don’t Hype the Disinformation Threat.
  • Wer vor ausländischer Einflussnahme warnt, sollte zunächst die Informationsketten genau prüfen: So holten sich russische Geheimdienste die Lügen, die sie verbreiteten, gerne von fringigen Rändern der westlichen Öffentlichkeit, wo sie ohnehin schon kursieren – und zwar vom HIV-Hoax („Aids kommt aus einem US-Labor“) der Achtzigerjahre bis zu anti-ukrainischen Mythen von heute.
  • Die ständige Beschäftigung der Öffentlichkeit mit vermeintlichen oder tatsächlichen Manipulationen hilft in erster Linie den Manipulatoren: Exaggerating the effects of foreign influence campaigns serves only the foreign operatives. It fosters a conspiratorial outlook, in which shadowy enemies are supposedly creating wedge issues, dissenters are merely parroting foreign spies, and trust in open democratic debate is eroded…false claims of clandestine foreign interference absolve U.S. leaders of responsibility for the health of our political discourse.
  • Das manchmal fast zwanghafte Debunking falscher Gerüchte und Geschichten ist oft von den Lügnern schon miteingepreist: Russian intelligence officers are likely designing their campaigns so that such falsehoods will gain even more traction once the subterfuge is revealed.
  • Viele Player in der „Anti-Desinformationssphäre“ haben falsche Anreize: For some investigative outfits and firms, a big exposé can bring press coverage, bigger budgets, investment dollars, grants, and reputational gains, even if the exposed activity does not warrant so much attention. (Zu dem Thema hilft auch dieser Artikel aus Harper’s).

Wie ich finde, ist dieser Artikel zwingende Lektüre, bevor man über neueste Desinformationskampagnen und dergleichen berichtet.

(Ich habe über diesen ganzen Themenkomplex übrigens zuletzt hier geschrieben.)