Digitale Souveränität

Zwischen Rhetorik und Realität

In den Diskussionen über die digitale Transformation fällt immer wieder der Begriff der digitalen Souveränität. Doch was bedeutet er genau – und wie beeinflusst er die europäische Politik? Eine neue Untersuchung gibt Aufschluss.

Die Digitalisierung hat sich zu einem politischen Schlüsselthema der Europäischen Union entwickelt. Komissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte bereits im Jahr 2020: „Das kommende Jahrzehnt muss Europas ‚Digital Decade‘ sein“. Doch US-amerikanische und chinesische Digitalkonzerne dominieren weiterhin den europäischen Markt. Die werbebasierten Geschäftsmodelle großer Plattformen stellen eine Bedrohung für Datenschutz und Privatsphäre dar. Gleichzeitig wächst die Besorgnis über die Verbreitung von Desinformationen, den Anstieg von Cyberangriffen und den Einfluss autoritärer Regime.

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, haben führende Politiker*innen wie Emmanuel Macron, Angela Merkel oder Ursula von der Leyen die Bedeutung eines eigenen „europäischen Ansatzes“ für die Digitalpolitik betont. Sie fordern, europäische Werte und Interessen im digitalen Raum zu verteidigen. Dafür will die EU nicht nur auf Regulierung zurückgreifen, sondern auch umfassende Investitionen in europäische Infrastrukturen tätigen.

Dieser europäische Ansatz soll sich sowohl von der Laissez-Faire-Politik der USA als auch vom staatlich stark kontrollierten System in China abgrenzen. Das Streben nach digitaler Souveränität wurde auf nationaler und europäischer Ebene immer wieder als Leitprinzip für diesen Ansatz identifiziert. In einer Sonderausgabe des Journal of European Public Policy zeigen Gerda Falkner, Sebastian Heidebrecht, Anke Obendiek, und Timo Seidl auf, wie der Begriff die Politik und den politischen Diskurs in der EU prägt.

Was bedeutet digitale Souveränität?

Digitale Souveränität beschreibt im Kern die verstärkte Kontrolle des digitalen Raumes auf drei Ebenen: der physischen Ebene (z.B. Infrastruktur, Endgeräte), der Code-Ebene (z.B. technische Standards, Regeln) und der Informationsebene (z.B. Daten, Online-Inhalte). Doch obwohl der Begriff weit verbreitet ist – ob in politischen Reden, Strategiepapieren oder Think Tanks – bleibt seine Bedeutung oft unscharf (siehe auch Lambach & Oppermann).

Insbesondere was genau verstärkte Kontrolle impliziert, wie weit sie geht, welche Akteure davon profitieren oder welche Werte und Interessen verfolgt werden, hängt stark vom jeweiligen Politikfeld ab. Dies zeigt auch die Analyse verschiedener Schlüsselbereiche der EU-Digitalpolitik.

Wandel in der europäischen Digitalpolitik

In der oben erwähnten Sonderausgabe hat eine Gruppe internationaler Forscher*innen neun Felder der EU-Digitalpolitik untersucht: künstliche Intelligenz, Cloud-Infrastruktur, Wettbewerbspolitik, Industriepolitik, digitale Finanzen, Urheberrecht, Online-Inhalte, digitale Außenbeziehungen und Internetstandards. Auffallend ist, dass sich in nahezu allen Bereichen der Trend zu stärkerer öffentlicher Kontrolle in konkreten Maßnahmen widerspiegeln. Nur in einem Teilbereich der Cloud-Politik finden sich Beispiele, die nicht über diskursive Veränderungen hinaus gehen. In allen Politikfeldern hat zumindest entweder diskursiver oder politischer Wandel stattgefunden.

Die Ergebnisse zeigen klar: Egal ob im Urheberrecht, in der Regulierung künstlicher Intelligenz oder im Bereich digitale Finanzen – politische Maßnahmen wie die Erhöhung von Bußgeldern, die Einführung neuer Regulierungsinstrumente oder die strategische Neuausrichtung ganzer Politikfelder haben zu einer verstärkten Kontrolle des digitalen Raumes geführt.

Ein prominentes Beispiel ist das Gesetz über Digitale Märkte (Digital Markets Act, DMA), das auf die Marktmacht großer Technologieunternehmen abzielt. Das Gesetz steht für einen Wandel hin zu einer dirigistischeren Wettbewerbspolitik, bei der die EU stärker in die Märkte eingreift, um faire Bedingungen zu schaffen und die Monopolstellung einzelner Konzerne zu schwächen (Hoeffler & Mérand, 2024). Auch in der Industriepolitik scheint die EU einen „geodirigistischen“ Wandel zu durchlaufen, in dem Märkte auf Sektoren mit geopolitischer Bedeutung gelenkt werden (Seidl & Schmitz, 2024). In den Bereichen KI-Regulierung (Mügge, 2024) und Internetstandards (Perarnaud & Rossi, 2024) zeigt die EU Ambitionen, eine führende Rolle in der Entwicklung globaler Regelungen einzunehmen

Politischer Wandel ohne einheitlichen Diskurs

Auffällig ist, dass dieser politische Wandel nicht immer von einem entsprechenden diskursiven Wandel begleitet wird. In mindestens vier Politikbereichen findet zwar eine Verschiebung hin zu mehr öffentlicher Kontrolle statt, der Begriff der digitalen Souveränität wird jedoch kaum explizit verwendet.

Im Bereich der digitalen Finanzen (Donnelly, Ríos Camacho & Heidebrecht, 2024) oder bei der Regulierung von Online-Inhalten (Flonk, Jachtenfuchs & Obendiek, 2024) werden häufig andere Begriffe wie „Sicherheit“ oder die „Bedrohung der öffentlichen Ordnung“ herangezogen, um neue Maßnahmen zu rechtfertigen. Bei der kontroversen Reform der Urheberrechtsrichtlinie im Jahr 2019 beriefen sich Politiker*innen verstärkt auf „europäische Werte und Kultur“ (Heermann, 2024). In einigen Kontexten, etwa den digitalen Außenbeziehungen (Carver, 2024), war die digitale Souveränität schlicht schwer von anderen Konzepten, wie zum Beispiel der strategischen Autonomie, zu unterscheiden.

Digitale Souveränität als politisches Instrument

Wenn man bedenkt, dass der Begriff der digitalen Souveränität nicht nur in politischen Diskussionen eine Rolle spielt, sondern auch in strategischen Dokumenten der EU, wie zuletzt im Draghi-Report, verankert ist, scheint diese fehlende Relevanz überraschend. Tatsächlich finden einige unserer Autor*innen, dass die Verwendung des Begriffes politischen Akteuren nützt. In der Industriepolitik dient der Begriff als „Koalitionsmagnet“, der unterschiedliche Interessen vereint, in der Wettbewerbspolitik stellt er ein „Ideenrepertoire“ für verschiedene Akteure bereit, das ideologische Differenzen überbrückt. Im Bereich der digitalen Finanzen hat die Einführung eines neuen Begriffs aufgrund langjähriger Rechtstraditionen kaum Vorteile, wird aber von den Behörden teilweise bei der Ausweitung ihrer Kompetenzen in neue Regulierungsbereiche verwendet.

In anderen Fällen hingegen wird der Begriff bewusst vermieden, da er leicht Assoziationen mit Protektionismus oder staatlicher Intervention hervorrufen könnte. Besonders in der Digitalpolitik wird der Begriff der Souveränität oft mit Einschränkungen der Meinungsfreiheit und möglicher Zensur sowie negativen Konsequenzen für den globalen Charakter des Internets in Verbindung gebracht. Beispiele dafür finden sich in der Cyberdiplomatie, im Cyber Capacity Building oder bei der Kontrolle digitaler Inhalte, wo die EU vermeiden möchte, übermäßige staatliche Kontrolle im Internet zu befürworten. In Bezug auf die KI-Strategie der EU hat der eurozentristische und überambitionierte Charakter des Strebens nach europäischer „KI-Souveränität“ ebenfalls Kritik hervorgerufen.

In der Cloud-Politik (Rone, 2024) zeigen sich außerdem nationale Unterschiede: So ist der Begriff der digitalen Souveränität in Ländern wie Deutschland und Frankreich prominenter als in anderen Mitgliedstaaten, etwa in den Niederlanden oder Polen.

Diese Unterschiede spiegeln wider, welche ideologische und historische Konstellation in bestimmten Politikbereich vorherrscht: Ob und wie die Akteure den Begriff der digitalen Souveränität verwenden, hängt von den Vor- und Nachteilen ab, die je nach Politik(teil)bereich unterschiedlich sind. Einige Akteure können von der Verwendung des Begriffs der digitalen Souveränität profitieren, um Koalitionen zu bilden oder gegnerische Lobbygruppen zu bekämpfen, während andere vermeiden möchten, als zu interventionistisch oder antiliberal zu erscheinen.

Fazit: Mehr als nur ein Schlagwort

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass digitale Souveränität mehr ist als nur ein politisches Schlagwort. Sie spiegelt die Bestrebungen der EU wider, ihre Kontrolle über den digitalen Raum auszuweiten und einen eigenen, europäischen Weg in der Digitalpolitik zu gehen. Auch wenn der Begriff nicht immer im Zentrum des Diskurses steht, treiben tiefgreifende Veränderungen die EU in Richtung mehr Kontrolle im digitalen Raum.

 

Zu den Autor*innen:

Anke Obendiek ist Referentin für Netzwerke & Gremien bei D64 – Zentrum für Digitalen Fortschritt. Zuvor war sie unter anderem als Postdoctoral Researcher am Centre for European Integration Research (EIF), Institut für Politikwissenschaft, der Universität Wien tätig.

Sebastian Heidebrecht ist Universitätsassistent am Centre for European Integration Research (EIF), Institut für Politikwissenschaft, der Universität Wien.

Gerda Falkner leitet das Centre for European Integration Research (EIF), Institut für Politikwissenschaft, der Universität Wien.

Timo Seidl ist Universitätsassistent am Centre for European Integration Research (EIF), Institut für Politikwissenschaft, der Universität Wien.

 

Hinweis:

Weitergehende Reflexionen zu diesem Thema finden Sie in der Sonderausgabe des Journal of European Public Policy.