Kommentar

Mit Chicago Boy Paul Romer zurück zum Washington Consensus

Paul Romer wird neuer Chefökonom der Weltbank. Diese Berufung ist ein besorgniserregender Schritt zurück in überwunden geglaubte Zeiten – auch wenn Romer inzwischen gelernt hat, seine radikalen und demokratiefeindlichen Thesen harmlos erscheinen zu lassen. Ein Kommentar von Norbert Häring.

Seit 2009 wirbt Paul Romer für die Idee der „Charter Cities“. Foto: Steve Jurvetson via Flickr (CC BY 2.0)

Die Weltbank hat am Montag bestätigt, was am Wochenende vorab durch die englischsprachigen Gazetten ging: Paul Romer soll neuer Chefvolkswirt werden. Diese Berufung ist ein besorgniserregender Schritt zurück zum überwunden geglaubten, marktliberalen „Washington Consensus“, auch wenn Romer gelernt hat, seine radikalen, demokratiefeindlichen Thesen gefällig zu verpacken und harmlos erscheinen zu lassen.

Romer ist in der akademischen Welt mit seiner endogenen Wachstumstheorie bekannt geworden. Im Kern geht es dabei darum, dass er nicht, wie in der früheren Wachstumstheorie, technischen Fortschritt unerklärt vom Himmel fallen lässt, sondern dessen Entstehung mit modelliert, in Abhängigkeit von Größen wie Humankapital, Gewinnen, Zinsen etc.

Das klingt erst einmal wie eine gute Qualifikation für eine Entwicklungsinstitution. Allerdings hat Romer in einem Interview selbst eingeräumt, dass seine Theorie dafür kaum taugt, weil sie nicht zwischen technischem Fortschritt in den technisch führenden Ländern und dem Aufholprozess durch Adaption in Entwicklungsländern unterscheidet. Dass er die Grenzen seiner Theorie kennt und nennt, ist immerhin positiv zu verbuchen.

Seit rund sieben Jahren ist sein Thema aber ohnehin ein anderes, allenfalls lose mit der endogenen Wachstumstheorie verbundenes. Romer wirbt seit 2009 für die Idee der Charter Cities als Entwicklungsmodell, was ihm neben vielen Schlagzeilen in den Medien auch einige Kritik eingebracht hat, weil es letztlich um aufgeklärten Kolonialismus als Königsweg zur Entwicklung geht. Vielleicht deshalb erwähnt er die Charter Cities in seinem Text nicht, indem er die Gründe dafür beschreibt, warum er das Angebot der Weltbank annimmt, obwohl er dabei durchaus auf seine Rolle als Leiter des Urbanisationsprojekts der Stern School und des Marron Institute of Urban Management eingeht.

Ein Libertärer mit einem libertären Projekt

In ersterem leitet er selbst das Programm zu Charter Cities. Die NZZ schreibt zwar, Romer habe sich von dem libertären Chicagoer Gedankengut wieder entfernt, das er als Doktorand an der Chacago School of Economics eingesogen hat. Seine Idee der Charter Cities atmet aber genau diesen und dazu noch einen Kolonialismus-verherrlichenden Geist, wie der NZZ-Autor Martin Lanz aus Washington als einer der wenigen Medienvertreter immerhin nicht versäumt zu erwähnen.

Der Name Charter Cities geht auf Städte in den USA zurück, die sich in manchen Regionen nach eigenen Statuten gründen und regulieren dürfen, anstatt auf der Grundlage von staatlichen Kommunalgesetzen. Romer schwebt eine Verallgemeinerung des Modells Hongkong vor.

Im Sinn hat er eine extreme Form der Free Enterprise Zones oder Freihandelszonen, mit denen Entwicklungsländer schon experimentieren. Geht es bei Letzteren darum, die Sonderzonen für ausländische Investoren attraktiv zu machen, indem dort bestimmte Regulierungen nicht gelten und Zölle nicht erhoben werden, gehen „Charter Cities“ einen Schritt weiter: Romer schlug vor, arme Entwicklungsländer mit schlecht funktionierenden Regierungen und Verwaltungen sollten Teile ihres Hoheitsgebiets langfristig an die Regierungen erfolgreicher Industrieländer verpachten und damit jegliche Kontrolle aufgeben. Die staatlichen Regeln, die sonst gelten, sollen en gros außer Kraft gesetzt werden.

Vorbild Hongkong

Was die Engländer in Sachen Hongkong mit Waffengewalt gegenüber China durchsetzten, sollen die armen Länder also freiwillig tun. Ein Weltbank-Manager bezeichnete 2010 die Idee auf dem internen Blog der Organisation als „neo-mittelalterlich“ und „neo-kolonialistisch“.

Die Berufung Romers ist für die Weltbank ein Schritt zurück Richtung „Washington Consensus“, der bis vor knapp 20 Jahren galt. Er bezeichnet die Philosophie, dass der beste Weg zur Entwicklung im Abbau von Regulierungen und möglichst großen Freiheiten für Unternehmen und internationalen Handel liege. Seither war mit Joseph Stieglitz ein scharfer Kritiker dieser Philosophie Chefvolkswirt, ebenso der Chinese Justin Yifu Lin, ein Vertreter der Theorie der staatlich geförderten und gelenkten Industrialisierung.

Bei denen, die sich so entwickeln sollen, stieß Romers Idee der „Charter Cities“ bisher auf wenig Euphorie. In Madagaskar plante die Regierung „Charter Cities“, wurde aber von einem wenig begeisterten Volk aus dem Amt gefegt, bevor sie den Plan umsetzen konnte. In Honduras, wo 2009 das Militär putschte, wurde 2011 die nötige Verfassungsänderung beschlossen und Romer zum Vorsitzenden eines „Transparenz-Komitees“ gekürt. Doch das Verfassungsgericht erklärte die geplanten „Charter Cities“ für verfassungswidrig, weil darin die Gesetze von Honduras keine Geltung hätten. Die kritischen Verfassungsrichter wurden später abgesetzt, und das Projekt kam wieder auf die Tagesordnung. Romer ist nicht mehr beteiligt, dafür aber einige Vertreter des republikanischen Polit-Establishments.

Autokraten lieben die Idee

Man darf Romer seinen Widerwillen gegen das, was die mitlitärgestützte Rechtsregierung in Honduras aus seiner Idee gemacht hat, schon abnehmen. Insofern ist er moralisch zumindest aus einem anderen Holz als die früheren Chicago Boys, wie Milton Friedman, die keinerlei Skrupel hatten, mit der vom Blut ihrer politischen Gegner triefenden Putschistenregierung Pinochets zusammenzuarbeiten.

Romer hat gelernt, das Demokratiefeindliche an seiner Idee gut zu verstecken, vielleicht auch vor sich selbst

Doch Romer verdrängt, dass es eben kein Zufall ist, dass seine Idee, wie Chicago-inspirierte Ideen generell, vor allem für autokratische, wirtschaftsliberale Regime attraktiv ist, und beim Volk in der Regel auf wenig Gegenliebe stößt. Er weiß aber, wie zum Beispiel seine Interviewbemerkung zeigt, dass der chinesische Autokrat Deng Xiaoping mit dem Charter-City-ähnlichen Experiment Shenzen „die chinesische Wirtschaft auf eine Weise öffnen wollte, die langes Diskutieren über die richtige Art von Wandel und wie er herbeizuführen sei, vermied.“ Romer hat allerdings gelernt, das Demokratiefeindliche an seiner Idee gut zu verstecken, vielleicht auch vor sich selbst. Er betont, dass Charter Cities neu, auf der grünen Wiese entstehen sollten, sodass niemand gezwungen werde, Neuerungen zu übernehmen. Alles freiwillig.

With a Startup City, you can propose something entirely new and let people choose whether they want to live under its rules, as embodied in its charter, the document that specifies its founding principles. People who want to try the reform can go there, and people who don’t, they don’t have to. With a startup, you can have reform without coercion.

Sein oft wiederholtes Schlüsselwort ist „Reform“. Gerade in Europa, wo die Entscheidungsträger in exzessiver Weise dieses Wort, gern auch als Strukturreform, gebrauchen, hat man gelernt zu verstehen, dass hinter dem blutleeren Begriff vor allem das Zurückdrängen jeglicher staatlicher Einschränkungen für Unternehmen und von Schutzrechten für Arbeitnehmer versteckt wird.

Freiwillige aber unausweichliche Reformen

Macht ja nichts, ist ja freiwillig, argumentiert Romer. Wenn es für die Leute nicht gut ist, gehen sie da nicht hin und aus solchen wirtschaftslibertären Charter Cities würde nichts. Doch das ist verlogen, denn der Zwang wird nur entpersonalisiert, indem man den Markt ihn ausüben lässt. In einem Land mit Massenarbeitslosigkeit, wie es in Entwicklungsländern die Norm ist, wird jeder Arbeitsplatz besetzt, egal wie gering die Schutzrechte sind.

Das wirkt sich auch auf diejenigen aus, die sich entschieden haben, nicht in diese Charter Cities zu gehen, denn für sie werden die Arbeitsplätze dann eventuell noch knapper. Auch dieser Wirkung ist sich Romer bewusst, indem er davon spricht, dass sich die „Reformen“, die in den Charter Cities eingeführt werden – ohne lästige Diskussion darüber, was gute Reformen sind – idealer Weise über das ganze Land ausbreiten sollen.

Here are my two tests for whether a policy is a reform or a concession: Would you be happy if this policy lasts forever? Would you be happy if this policy spread to the entire country? If the answer to both questions is yes, it is a reform.

Auch Weltbankpräsident Jim Yong Kim scheint so etwas vorzuschweben, wenn er in der offiziellen Mitteilung schreibt.

Wir sind begeistert von (Romers) Entschlossenheit, Armut und Ungleichheit zu bekämpfen und innovative Lösung zu finden, die wir im großen Maßstab wirken lassen können.

Auch er scheut allerdings die Nennung des mit dem unschönen Vorwurf der Kolonialismus-Verherrlichung belasteten Begriffs, mit dem Romer bekannt geworden ist.

Romer spricht zwar im Interview davon, dass es darum gehe, neue Regierungsformen auszuprobieren. Dazu gehört etwa der frühere Vorschlag an die armen Länder, Teile ihres Gebiets langfristig an Konsortien von Industriestaaten zu verleasen, die die Regierungsgeschäfte übernehmen. Aber wenn er konkrete Beispiele für Innovationen nennt, dann kommt er nur mit technischem Kram, wie die Organisation des Straßenverkehrs oder der Energieversorgung, der nichts mit neuen Regierungsformen zu tun hat.

Paul Romer hat sehr viel Kreide gefressen.

 

Zum Autor:

Norbert Häring ist Ökonom und Journalist. Er ist Redakteur des „Handelsblatts“ und bloggt auf norberthaering.de. Häring ist Gründer und Vorsitzender des EZB-Schattenrats sowie Ko-Direktor der ebenfalls von ihm mitbegründeten World Economics Association.

Hinweis:

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf norberthaering.de.