Brexit

Die Trauer um ein verlorenes Empire

Bei den Brexit-Erklärungsversuchen blieb bisher unberücksichtigt, welche tiefen Spuren der Niedergang des Empire in der britischen Psyche hinterlassen hat. Gerade viele ältere Briten sind der Meinung, dass Großbritannien zum Vasallenstaat eines neuen, von Deutschland regierten europäischen Imperiums geworden ist. Ein Kommentar von Frances Coppola.

Das Britische Empire in den Grenzen von 1886. Bild: Forgemind ArchiMedia via Flickr (CC BY 2.0)

Es gab zuletzt viele Analysen der Gründe, warum die Briten für den EU-Austritt gestimmt haben. Einige davon sind sehr gut. Andere weniger und sagen mehr über die Vorurteile der Autoren als über die Motivation der Briten aus (nein, ich werde keinen dieser Beiträge hier verlinken!). Ich gestehe, dass ich auch meinen Teil zu dieser Literatur beigetragen habe. Es bleibt Ihnen überlassen zu beurteilen, in welche Kategorien meine Beiträge fallen.

Aber trotz der umfangreichen Berichterstattung zum Brexit scheint es doch eine No-go-Area, ein Tabu zu geben. Und das ist nicht die Einwanderung, oder der Rassismus oder die Fremdenfeindlichkeit. Und es ist auch nicht der Verlust der britischen Industrie oder der Niedergang der Fischerei. Und nicht die Divergenz zwischen London und anderen Regionen, die Spaltung zwischen Jung und Alt, die Tatsache, dass Menschen mit Hochschulabschlüssen eher für einen EU-Verbleib gestimmt haben. Dazu ist wahrlich genug geschrieben worden. Nein, der Gegenstand dieses Tabus ist das Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs und der Verlust des Britischen Empires.

Ich bin im Schatten des Krieges aufgewachsen. Meine Eltern waren während des Zweiten Weltkriegs noch Kinder. Meine Mutter war evakuiert worden, was laut ihrer seltenen Erzählungen darüber eine unglaublich traumatische Erfahrung gewesen sein muss, obwohl sie (anders als die meisten „Evacuees“) zu ihren Verwandten geschickt wurde. Und mein Vater hat den „Blitz“ (die Luftschlacht um England) miterlebt.

Der Krieg hat beide ihr Leben lang verängstigt und ihre Kindheitserfahrungen haben wiederum meine Kindheit geprägt. Obwohl der Krieg schon lange vorbei war, haben wir große Teile unserer Lebensmittel selbst angebaut. Meine Eltern erzählten uns Geschichten aus dem Krieg: Ich erinnere mich daran, wie mein Vater den brennenden Himmel beschrieben hat, als die Londoner Docks bombardiert worden waren. Meine Mutter (die zum Ende des Krieges nach London zurückkehrte) redete über das Auflesen von Schrapnellen. Und meine Großeltern erzählten uns nicht nur Geschichten über den Zweiten, sondern auch über den Ersten Weltkrieg, den sie ebenfalls erlebt haben.

Während meiner Kindheit war die populäre Literatur – sogar die für Kinder – schamlos triumphal. Insbesondere Jungs-Comics waren voller Geschichten über britische (manchmal auch amerikanische) Helden, die die „Jerries“ besiegten. Die Filme dieser Zeit waren ebenfalls von Kriegsgeschichten dominiert.

Aber wir lebten auch unter der Bedrohung eines neuen Krieges. Deshalb gab es auch sowjetische Spionagegeschichten. Es war die Zeit von James Bond, der von „The Dam Busters“ und „Where Eagles Dare“ begleitet wurde. Der Krieg war ein konstantes Risiko. Aber wir wussten, dass wir siegen könnten. Schließlich hatten wir zwei Weltkriege gewonnen.

Aber – hatten wir das wirklich? Die Risse im britischen Empire zeigten sich bereits in der Zeit nach dem Ersten Weltkriegs mit der Abspaltung Irlands 1921 und der Gründung des Commonwealth im Jahr 1931. Nach dem Zweiten Weltkrieg bröckelten noch viel größere Teile ab. Indien, das„Jewel in the Crone“ des Britischen Empire wurde 1947 unabhängig. Die Suez-Krise von 1956 verdeutlichte die politische und ökonomische Schwäche Großbritanniens. Die rapide Dekolonialisierung des Nahen Ostens und Afrikas folgte, als Großbritannien, das mit hohen Schulden, einer steigenden Inflation und einer stagnierenden Wirtschaft in der Heimat zu kämpfen hatte, dazu gezwungen war, die Kolonien, die es nicht länger unterstützen konnte, aufzugeben. Das britische Empire war effektiv zu Ende, als Hong Kong 1997 an China zurückgegeben wurde.

Großbritannien hat zwei Weltkriege gewonnen, aber seinen Status als führende Weltmacht verloren

Obwohl Großbritannien (dank kräftiger Hilfe seiner Freunde) die Kriege gewonnen hat, hat es doch seinen Status als führende Weltmacht verloren. Für diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Ära des britischen Triumphalismus aufgewachsen sind, war das schon schlimm genug. Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Die Briten und die EU

Großbritannien war kein Gründungsmitglied des Europäischen Projekts. Frankreichs Präsident De Gaulle legte zweimal sein Veto gegen die britischen Beitrittsgesuche in die entstehende Europäische Gemeinschaft ein. Und sogar als Großbritannien 1972 dann doch schließlich beitrat, war seine Mitgliedschaft nur halbherzig: Ein 1975 abgehaltenes Referendum bestätigte zwar den Verbleib, aber alle folgenden Regierungen kämpften kontinuierlich gegen die Bedingungen dieser Mitgliedschaft an. Irgendetwas in der britischen Psyche gefiel es offenbar nicht, in das Europäische Projekt hineingezogen zu werden, bei dem die Briten nicht die Führungsrolle hatten.

Je weiter die Europäische Integration voranschritt, desto unwohler fühlten sich die Briten. Die Einführung des Euro im Jahr 1999 – dem Großbritannien nicht beitrat – schuf einen „Kern“, zu dem die Briten nicht gehörten. Die Entscheidung von Premierminister Gordon Brown, dem Euro nicht beizutreten, hat Großbritannien wahrscheinlich in der Finanzkrise 2008 vor dem Kollaps bewahrt – aber sie bedeutete auch, dass die Briten nicht mehr im Herzen der EU stehen konnten.

Großbritannien wurde zum Peripheriestaat eines neuen Imperiums

David Camerons berühmter „Walkout“, mit dem er die Unterzeichnung des Fiskalpakts verweigerte, der Großbritannien in das strenge europäische Haushaltsregelwerk eingebunden hätte, hat die Briten an den Rand gestellt. Großbritannien hat nicht nur ein Empire verloren – es wurde zum Peripheriestaat eines Gebildes, das selbst mehr und mehr wie ein neues Imperium aussah. Und die Griechenland-Krise machte überdeutlich, dass dieses neue Imperium auch noch zunehmend von einem alten Feind dominiert wurde.

Ein von Deutschland regiertes europäisches Imperium

Ich war früher ziemlich ratlos, wenn es darum ging, den fast schon instinktiven Hass auf die EU, den ich in Gesprächen erlebt und vor allem in der Boulevardpresse gelesen habe, zu erklären. Aber ich glaube, dass ich ihn jetzt verstanden habe.

Gestern erzählte mir meine Nachbarin, warum sie (und ihre Familie) für den Austritt gestimmt hat. „Es war meine Mutter“, sagte sie. „Sie hat mich daran erinnert, dass wir zwei Kriege gekämpft haben, um nicht von den Deutschen regiert zu werden. Jetzt sagen sie uns, was wir zu tun haben.“ Und weiter: „Das war für mich der entscheidende Faktor.“

Meine Nachbarin ist Mitte 50, also ähnlich alt wie ich. Sie lebt schon ihr ganzes Leben in dieser Gegend und gehört zur soliden Arbeiterschicht (sie und ihr Mann betreiben eine eigene Autolackiererei). Genau wie ich ist auch sie in der Ära des britischen Nachkriegs-Triumphalismus aufgewachsen. Und für sie war es einfach zu viel, dass Großbritannien zu einem Vasallenstaat des neuen, von Deutschland regierten europäischen Imperiums geworden ist.

Ich sehe das nicht so und habe auch ein anderes Verständnis von Deutschland: Ich weiß, welchen Selbstfindungsprozess die Deutschen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durchgemacht haben. Ich glaube auch nicht, dass die Deutschen wieder zu einer Imperialmacht werden wollen. Aber im Gegensatz zum Nachkriegskonsens – Deutschland sollte es nie wieder erlaubt werden, ein Imperium aufzubauen – bittet die Welt Deutschland jetzt darum, die Kontrolle zu übernehmen.

Daran sind diejenigen Schuld, die die Europäische Union entworfen haben. Die Idee, dass die europäischen Nationen einfach ihre blutige Vergangenheit hinter sich lassen und miteinander kooperieren können, um ein größeres Ganzes zu schaffen, war ein schöner Traum. Und eine Weile lang schien es auch zu funktionieren. Aber als die Krise kam, fragmentierten sich die Nationen und offenbarten das Führungsvakuum, dass der Konzeption der EU innewohnt. Es war unvermeidbar, dass die Welt auf die stärkste Nation dieses Blocks geschaut hat. Und diese Nation war nicht das halb separierte Großbritannien, sondern die größte Nation im Herzen der EU: Deutschland.

In den Augen vieler älterer Briten ist die heutige EU genau jenes Deutsche Reich, von dem sie dachten, sie hätten es zerstört

Ob Deutschland überhaupt eine Imperialmacht sein will, ist dabei irrelevant. In den Augen vieler älterer Briten ist die heutige EU genau jenes Deutsche Reich, von dem sie dachten, sie hätten es zerstört, und das sich jetzt wie Phoenix aus der Asche der Finanzkrise erhoben hat. Kein Wunder, dass sie für den Austritt gestimmt haben. Sie wollen eben kein Teil einer solchen Monstrosität sein. Und sie hoffen außerdem, dass sie es durch ihren Austritt zerstören. Es ist sehr deutlich geworden, dass einige Brexit-Unterstützer glauben, dass die EU den britischen Austritt nicht überleben wird – und schadenfroh ihre Auflösung erwarten.

Ich akzeptiere vollkommen, dass dies auf keinen Fall der einzige Grund ist, warum die Briten für den Brexit gestimmt haben. Aber ich bin der Meinung, dass er ein erheblicher Faktor war. Und ich glaube auch, es hilft dabei zu erklären, warum insbesondere ältere Menschen mit „Leave“ gestimmt haben.

Ich weiß, dass diese Meinung manche Leute auf die Palme bringen wird. Ich erwarte, niedergeschrien zu werden und dass man mir sagt, ich hätte hurrapatriotischen Unsinn geschrieben und kein Brite wirklich so denken würde. Aber ich habe eine letzte Bemerkung zu meinen Gunsten zu machen.

Die glorreichen Tage sind für immer vorbei

Vor einigen Monaten, in den frühen Tagen des Referendumswahlkampfs, war ich zu einer Buchvorstellung in London eingeladen. Mir war nicht klar, was mich erwarten würde: Das Buch klang spannend und nicht eindeutig pro- oder anti-EU. Aber nachdem Redner um Redner gegen die EU argumentiert hatte wurde mir klar, dass ich mitten in einem Brexit-Meeting war. Als erklärte „Remainerin“, die ich seit der 2014er Rochester & Strood-Nachwahl bin, in der ich mich weigerte, für UKIP zu stimmen, fühlte ich mich zunehmend unwohl. Aber dieses Unwohlsein wurde nicht dadurch ausgelöst, dass die Menschen um mich herum genauso von einem „Leave“ wie ich von einem „Remain“ überzeugt waren. Nein, es wurde dadurch ausgelöst, wer diese Leute waren – und durch die Gründe, mit denen sie den Brexit rechtfertigten.

Der Raum war voller weißer Männer. Die meisten deutlich älter als ich. Sie hatten alle Karriere gemacht, viele von ihnen im Bankwesen, an der Börse oder im Rechtssystem. Einige waren Offiziere bei den Streitkräften gewesen. Sie waren nicht die „white working class“, von der behauptet wird, sie hätte mit „Leave“ gestimmt, um der Elite, die sie im Stich gelassen hat, einen Tritt in den Hintern zu verpassen. Nein, diese Leute waren die Elitein ihrer Zeit. Aber ihre Zeit war vorüber. Und sie dachten, dass ein EU-Austritt diese Zeit zurückbringen würde.

Einer nach dem anderen redete darüber, die britische „Souveränität“ wiederherzustellen – was eine nur mäßig versteckte Metapher für „Empire“ war. Sie sprachen davon, dass Großbritannien eine neue globale Großmacht an der Spitze eines wiederbelebten Commonwealth sein würde. Sie diskutierten, dass Großbritannien Chinas wichtigster Handelspartner werden würde, noch vor den USA und der verhassten EU.

Sie schienen zu glauben, dass Großbritannien einfach in jede beliebige Ecke der Welt marschieren und Handelsbeziehungen zu seinen Bedingungen aushandeln könnte. Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass das Commonwealth vielleicht nicht sonderlich erpicht darauf sein könnte, sich erneut von Großbritannien führen zu lassen, dass China andere Ambitionen haben könnte und andere Länder vielleicht nicht wünschen, die britischen Forderungen zu akzeptieren. Für diese Leute würden die glorreichen Tage schon zurückkehren, sobald der EU-Austritt vollzogen ist.

Ich fühlte mich ihretwegen unglaublich traurig, und ich tue es immer noch. Ein EU-Austritt wird nicht das verlorene britische Empire zurückholen und es auch nicht wieder an die Spitze des Commonwealth bringen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass China sich ermuntert sieht, Großbritannien als Verladerampe zur Welt zu sehen. Der Austritt wird nicht Großbritanniens Einfluss in der Welt erhöhen, sondern ihn eher reduzieren.

Sicher, sogar nach dem Austritt wird Großbritannien eine gewichtige Rolle spielen: Es ist weiterhin eine der größten globalen Volkswirtschaften und hat mächtige geografische, juristische, sprachliche und kulturelle Vorteile. Aber die glorreichen Tage sind für immer vorbei. Das Leave-Votum hat sichergestellt, dass sie niemals zurückkehren werden.

 

Zur Autorin:

Frances Coppola arbeitete 17 Jahre lang als Analystin und Projektmanagerin für verschiedene Banken. Mittlerweile ist sie eine renommierte Kolumnistin in zahlreichen internationalen Zeitungen, darunter die Financial Times und der Economist. Außerdem bloggt sie auf Coppola Comment, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist.