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Die Arbeitsmarktkrise in der Mittelmeerregion

Die Lage auf den Arbeitsmärkten der Mittelmeerregion hat sich in den letzten zehn Jahren drastisch verschlechtert. Vor allem die starke Zunahme der Jugendarbeitslosigkeit gibt Grund zur Besorgnis.

Europas mediterrane Nachbarschaft ist im Zuge der Flüchtlingskrise in den Blickpunkt geraten. Im Verlauf des Jahres 2015 haben über eine Million Menschen Europa erreicht. Die Frage, wie dem wachsenden Immigrationsdruck begegnet werden soll, ist zu einem zentralen politischen Thema geworden.

Die Länder rund ums Mittelmeer stehen auch wegen anschwellender Sicherheitsprobleme in Syrien, Libyen und anderswo auf dem Prüfstand. Zahlreiche ökonomische Studien sehen einen Zusammenhang zwischen Konflikten und demografischen Bedingungen sowie schlechten wirtschaftlichen Chancen für junge Menschen. Länder, die einen „demografischen Wandel“ erleben, der in einer sehr jungen Bevölkerung resultiert, sind besonders konfliktanfällig – insbesondere dann, wenn die wirtschaftlichen Möglichkeiten knapp sind (Homer-Dixon 1999; Kelley & Schmidt 2001; Urdal 2004; Kahl 2006).

Die Jugendarbeitslosigkeit ist vielen Ländern der Mittelmeerregion ein Problem mit hoher Dringlichkeit. 25,4 Millionen Menschen sind ohne Arbeit, davon sind 7 bis 8 Millionen im Alter von 15 bis 24 (World Bank 2014; United Nations World Population Prospects 2015). Insgesamt leben in der Region 490 Millionen Menschen, 192 Millionen davon in den acht EU-Mitgliedsstaaten.

Der Anteil junger Menschen, die weder studieren, sich in Ausbildung befinden oder eine Arbeit haben, hat seit der Finanzkrise zugenommen. In vielen Ländern sind die Jugendarbeitslosigkeitsraten höher als die Arbeitslosigkeit bei der älteren Erwerbsbevölkerung. Die verfügbaren Zahlen könnten aufgrund der Nicht-Teilnahme am Arbeitsmarkt das wahre Ausmaß der Arbeitslosigkeit sogar noch untertreiben.

Vor allem die Zunahme der Jugendarbeitslosigkeit ist besorgniserregend. Sie kann langanhaltende Effekte auf die Produktivität und das Potenzialwachstum haben. Oftmals werden junge Menschen für einen längeren Zeitraum vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, was ihre Produktivität und ihre Jobaussichten für das gesamte Leben senkt (Arulampalam 2001; Gregg und Tominey 2005).

Die demografischen Strukturen der Mittelmeer-Länder variieren erheblich, wie Grafik 1 zeigt. Das Median-Alter in den Nicht-EU-Ländern ist allgemein niedriger als in den EU-Staaten. Die Türkei und Ägypten, die zwei bevölkerungsreichsten Nicht-EU-Mittelmeer-Länder, weisen beide ein Median-Alter deutlich unter dem von jedem EU-Land auf.

Rund ums Mittelmeer hat sich das Median-Alter in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich erhöht, allerdings mit deutlichen Unterschieden zwischen den Ländern.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts war das Pro-Kopf-Wachstum in den Nicht-EU-Ländern höher. Grafik 3 zeigt auf Basis der Kaufkraftparitäten das durchschnittliche BIP-Pro-Kopf-Wachstum der letzten zehn Jahre.

Die niedrigen Wachstumszahlen in der EU spiegeln die tiefen Narben wieder, die die Eurokrise zurückgelassen hat. Im Vergleich dazu war das Wachstum in den Nicht-EU-Ländern relativ stabil, was eine gewisse Einkommenskonvergenz nahelegt, wenn auch ausgehend von einem niedrigen Niveau.

Die Arbeitslosenraten im Mittelmeerraum sind während der letzten zehn Jahre in den EU-Mitgliedsstaaten deutlich stärker gestiegen als in den Nicht-EU-Ländern, was ebenfalls auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen ist. Die Arbeitslosenraten haben sich für Zypern, Griechenland und Spanien zwischen 2005 und 2014 mindestens verdoppelt. Der höchste Anstieg war auf Zypern zu beobachten, wo sich die Arbeitslosenrate in diesem Zeitraum fast verdreifacht hat. Auch in vier Nicht-EU-Staaten (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ägypten und Syrien) sind die Arbeitslosenraten angestiegen.

Die Jugendarbeitslosigkeitsraten – definiert als der arbeitslose Anteil der Erwerbsbevölkerung im Alter von 15 bis 24 Jahren, der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und nach Arbeit sucht – haben sich in den meisten Mittelmeer-Ländern zwischen 2005 und 2014 erhöht.

In Kroatien, Zypern, Griechenland, Italien, Slowenien und Spanien sind Jugendarbeitslosigkeitsraten stärker als im EU-Durchschnitt gestiegen. Auch in den Nicht-EU-Staaten sind die Raten während der letzten zehn Jahre angezogen, inklusive der Länder, die bereits hohe Raten hatten. Das sind etwa Bosnien und Herzegowina, Ägypten, Libyen, Montenegro, Syrien und Tunesien.

Die Erwerbsquoten liegen in etwa auf dem Niveau von vor zehn Jahren, obwohl die Beteiligung in einigen EU-Ländern, darunter Kroatien, Frankreich und Slowenien, wie auch in den Nicht-EU-Staaten Albanien, Marokko, Montenegro und Syrien gefallen ist. Israels Erwerbsquote hat sich im letzten Jahrzehnt mit einem Anstieg von fast acht Prozentpunkten am stärksten verändert.

In einer Zahl von Mittelmeer-Ländern ist die Arbeitslosigkeit bei Frauen sehr viel höher als bei Männern, aber diese Beobachtung wird höchstwahrscheinlich durch die stark unterschiedlichen Erwerbsquoten unter den Geschlechtern verzerrt. In den Nicht-EU-Staaten Algerien, Ägypten, Libanon, Libyen und Syrien sind weiblichen Arbeitslosenquoten mindestens eineinhalb Mal so hoch wie bei Männern, wobei in allen Ländern mit Ausnahme Ägyptens der Unterschied in den letzten zehn Jahren noch größer geworden ist.

In den meisten EU-Ländern waren die weiblichen Arbeitslosenquoten 2014 in etwa gleich. In Kroatien, Zypern, Frankreich und Deutschland war die Arbeitslosigkeit bei Frauen im Vergleich zu der bei Männern niedriger. Bemerkenswerterweise haben sich die – einst erheblichen – Unterschiede zwischen Männern und Frauen in Griechenland, Italien und Spanien von 2005 bis 2014 verkleinert.

Die Arbeitslosenquoten könnten noch weiter anstiegen

Der Mittelmeerraum erlebt eine Krise der Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit, die nicht nur für die Länder selbst eine Rolle spielt, sondern auch breitere Implikationen für die EU als Ganzes hat. Die bisherigen Initiativen in der Region haben es nicht geschafft, die hohe Jungendarbeitslosigkeit zu verhindern (European Commission; European Training Foundation 2015; Koenig 2016).

Derweil lassen der demografische Druck und die Immigrationsströme vermuten, dass die Arbeitslosenquoten in den kommenden Jahren noch weiter steigen könnten. Der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit sollte weiterhin eine hohe politische Priorität haben, aber der Fokus muss auf Programmen liegen, die auch tatsächlich Resultate gezeigt haben. Außerdem muss die EU-Nachbarschaftspolitik eine höhere Priorität erhalten und auch solche Länder umfassen, die wie z. B. Libyen und Syrien momentan noch am Rand der Partnerschaft stehen.

 

Zu den AutorInnen:

Nuria Boot (Research Assistent), Karen E. Wilson (Senior Fellow) und Guntram B. Wolff (Direktor) forschen am Thinktank Bruegel.

 

Hinweis:

Dieser Beitrag wurde zuerst vom Thinktank Bruegel in englischer Sprache veröffentlicht und mit Zustimmung von Bruegel ins Deutsche übersetzt.