Debatte Haushaltsüberschüsse

Investieren, um zu wachsen

In der deutschen Presse herrscht die Sichtweise vor, dass die Haushaltsüberschüsse für Steuersenkungen verwendet werden sollten. Der ökonomische Mainstream wiederum plädiert für die Schuldentilgung. Die beste Option wäre aber die Ausweitung der öffentlichen Investitionen – was auf Dauer auch dem einzelnen Haushalt zu Gute kommen würde. Ein Debattenbeitrag von Gustav Horn.

Öffentliche Investitionen dienen nicht nur der konjunkturellen Belebung, sondern auch der Ausweitung des Produktionspotenzials. Foto: Pixabay

Was für ein Luxusproblem! Wie schon im Vorjahr weist der Bundeshaushalt für 2016 erneut einen Überschuss auf, und schon beginnt der Streit um dessen adäquate Verwendung. Dies alles geschieht vor dem Hintergrund, dass immer noch viele Mitgliedsstaaten des Euroraums unter zum Teil erheblichen Budgetproblemen leiden. Die Menschen in diesen Ländern wären dankbar, könnten sie einen ähnlichen Streit entfachen.

Gleichwohl ist dieser Streit notwendig und aufschlussreich. Er ist notwendig, weil ja tatsächlich zu diskutieren ist, wie denn die Überschüsse am besten verwendet werden sollten. Er ist aufschlussreich, weil sich die beste Antwort auf diese Frage je nach Perspektive, aus der das wirtschaftliche Geschehen betrachtet wird, tatsächlich unterscheidet. Es handelt sich also auch um ein Lehrstück über Perspektiven in der Volkswirtschaftslehre.

Der Favorit der Presse: Steuersenkungen als einzelwirtschaftlich optimale Antwort

In den Wirtschaftsteilen der Presse dominiert die Sichtweise, dass die Überschüsse für Steuersenkungen genutzt werden sollten: Das Geld solle den Steuerzahlern zurückgegeben werden. Diese Antwort ist aber nur dann richtig, wenn man den Sachverhalt aus einer einzelwirtschaftlichen Perspektive mit kurzfristigem Zeithorizont betrachtet. Denn eine solche Maßnahme würde sich zwar in jedem Fall kurzfristig positiv auf das Haushaltsbudget der Steuerzahler auswirken.

Auf längere Sicht könnte sich dies jedoch als Fehler erweisen. Während kurzfristig die Nettoeinkommen steigen, können sich auf längere Sicht als Folge der sinkenden Steuereinnahmen neue Haushaltsdefizite beim Staat herausbilden. Diese würden den Finanzminister vor dem Hintergrund der Schuldenbremse zwingen, entweder die Steuern wieder zu erhöhen oder aber Ausgaben zu streichen. Beides vermindert, wenn auch bei unterschiedlichen Betroffenen, die Einnahmen der Privaten. Am Ende bleibt von dem vermeintlichen Geschenk nichts mehr übrig.

Aus einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive, in der nicht nur die eigene Geldbörse des privaten Haushalts, sondern die aller gesamtwirtschaftlich Handelnden zählt, sind Steuersenkungen noch deutlich weniger positiv darzustellen. Dabei ist allerdings zunächst einmal zwischen verschiedenen gesamtwirtschaftlichen Sichtweisen zu unterscheiden.

Durch die Brille des deutschen Mainstreams, der sich in seinen konjunkturellen Beurteilungen stark von einem strukturell gegebenen Produktionspotenzial leiten lässt, schöpft die deutsche Wirtschaft derzeit ihre Möglichkeiten voll aus. Dies impliziert in dieser Sicht, dass die Überschüsse rein konjunkturell, also temporär sind. Folglich dürfen sie nicht für permanent wirksame Steuersenkungen verwendet werden.

Nur etwa die Hälfte eines Steuerimpulses fließt in den Wirtschaftskreislauf und belebt die Konjunktur

In einer gesamtwirtschaftlichen Sichtweise, die keynesianisch geprägt ist und einem fixen Produktionspotenzial skeptisch gegenübersteht, könnte das Argument konjunktureller Stimulierung a priori mehr Gewicht haben. Doch auch aus dieser Sicht ergibt sich kein starkes Argument für Steuersenkungen. Ein expansiver Impuls durch niedrigere Steuern wäre schon wegen der ohnehin sehr begrenzten Überschüsse kaum spürbar. Vor allem aber sind Steuersenkungen ein relativ ineffektives Instrument, um die Konjunktur anzuregen: Nur etwa die Hälfte eines Steuerimpulses fließt in den Wirtschaftskreislauf und belebt die Konjunktur. Die andere Hälfte verbleibt auf Sparkonten – aus konjunktureller Sicht versickert sie also.

Der Favorit des Mainstreams: Schuldenabbau

Die zweite Alternative, die Überschüsse zu verwenden, wäre, sie zum sofortigen Schuldenabbau zu nutzen. Dies ist zwar aus einzelwirtschaftlicher Sicht wie oben dargestellt nicht die optimale Alternative, aber immerhin vermindert sie im Vergleich zum ersten Weg die Wahrscheinlichkeit künftiger Steuererhöhungen. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht erscheint eine beschleunigte Konsolidierung sogar eindeutig sinnvoller.

In der Sichtweise des deutschen ökonomischen Mainstreams ist sie sogar die beste aller Möglichkeiten. Demnach sollten konjunkturell bedingte  Einnahmenüberschüsse dazu genutzt werden, die Schuldenstandquote des Staates zu senken. Dies versetzt ihn in die Lage, im nächsten Abschwung Defizite hinzunehmen, ohne das sich im Zyklusverlauf der Schuldenstand immer weiter erhöht. Letzteres wird ja von dieser Seite als ein Grundproblem der Fiskalpolitik der vergangenen Jahrzehnte angesehen. Schulden abzubauen bedeutet zudem, dass gleichzeitig die Konjunktur gedämpft wird. Bei der unterstellten Vollauslastung ist dies erwünscht. Auf diese Weise werden Überhitzungstendenzen, die sich z.B. in Inflationstendenzen zeigen, vermieden.

Derartige Überlegungen sind auch aus keynesianischer Sicht unter normalen Umständen alles andere als abwegig. Die Einschränkung „unter normalen Umständen“ ist allerdings wichtig. Denn die Umstände sind nicht normal.

Noch immer leidet die Wirtschaft des Euroraums unter den Folgen der Finanzmarktkrise und den eigenen, teilweise gravierenden wirtschaftspolitischen Unzulänglichkeiten und Fehlern. Das betrifft entgegen dem ersten Anschein auch Deutschland. So ist die Investitionsdynamik hierzulande trotz der extrem niedrigen Zinsen und trotz der ansonsten kräftigen Binnennachfrage nach wie vor schwach und labil. Das ist nicht nur aus konjunktureller Sicht bedenklich, sondern lässt vor allem nichts Gutes für das künftige Wachstum und die künftige Beschäftigung erwarten. In diesem Befund spiegelt sich die immer noch fundamentale Unsicherheit der Investoren, die angesichts der politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen in und außerhalb Europas zurückhaltend sind, sich mit Investitionen zu binden.

Um diese Unsicherheit zumindest zu mindern, wäre ein fiskalpolitischer Impuls für die Konjunktur wünschenswert. Entscheidet man sich dagegen für einen forcierten Schuldenabbau, unterbleibt dieser Impuls und die Unsicherheit hält an.

Investieren, um zu wachsen

Es ist daher nicht überraschend, dass es aus keynesianischer Sicht am sinnvollsten wäre, die Überschüsse für vermehrte öffentliche Investitionen zu verwenden. Dies würde gemessen am zur Verfügung stehenden Aufkommen den stärksten Impuls auslösen – wesentlich stärker als durch Steuersenkungen, die eher den Konsum, und diesen auch nur verhalten, anregen. Zugleich würden durch höhere öffentliche Investitionen auch die Gefahren für Wachstum und Beschäftigung gemindert, die sich durch die langlebige Investitionsschwäche inzwischen ergeben.

Mittlerweile zeigen zahlreiche Untersuchungen, dass die strikte Trennung zwischen Konjunktur und Wachstum, die gerade der ökonomische Mainstream in Deutschland pflegt, obsolet ist. Öffentliche Investitionen dienen nicht nur der konjunkturellen Belebung, sondern auch der Ausweitung des Produktionspotenzials. Ersteres ist derzeit in der Tat nur wenig erforderlich – letzteres aber umso mehr. Aus dieser Sicht sind höhere öffentliche Investitionen der Verwendungszweck der ersten Wahl für die Haushaltsüberschüsse.

Die Einwände aus der gesamtwirtschaftlichen Sicht des Mainstreams sind vorhersehbar. Dabei ist das zu erwartende Argument, auf diese Weise würden die Schulden erhöht, noch am leichtesten zu entkräften. Zunächst einmal werden die Schulden überhaupt nicht erhöht, da es ja darum geht, Überschüsse zu verwenden. Hinzu kommt, dass die etwas dynamischere Konjunktur und vor allem das erhöhte Wachstumspotenzial den Schuldenabbau letztlich erleichtern.

Ernster zu nehmen sind Befürchtungen, dass ein Konjunkturimpuls in der gegenwärtigen Situation schädliche prozyklische Wirkungen auslöst. Darunter ist insbesondere das Auslösen einer Inflationsspirale zu verstehen. Durch überlastete Kapazitäten würden Unternehmen beginnen, die Preise stärker zu erhöhen. In der Folge würde es zu kompensierenden und – wegen der guten Beschäftigungslage – wahrscheinlich darüber hinaus gehenden Lohnerhöhungen kommen, die wiederum weitere Preissteigerungen nach sich zögen. Auf diese Weise gewänne die Spirale immer mehr an Fahrt bis Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt habe oder die EZB, weil die Inflation auf den gesamten Euroraum ausstrahlt, durch eine restriktive Geldpolitik Einhalt gebietet.

Diese Befürchtungen sind derzeit jedoch unbegründet. Erstens ist der Impuls hierfür ohnehin zu schwach, und zweitens ist die Konjunktur weit davon entfernt, überschäumend zu sein. So ist die um die volatilen Energie- und Lebensmittelpreise bereinigte Kerninflationsrate trotz ihrer jüngsten Beschleunigung noch weit von dem Zielwert der EZB, den berühmten knapp 2%, entfernt.

Von einer Überauslastung der Wirtschaft kann derzeit keine Rede sein

Das bedeutet, dass das kürzlich zu beobachtende Anziehen der Inflationsrate primär auf nur kurzfristig wirkende Faktoren zurückzuführen ist. Schließlich war vor allem der Anstieg der Energiepreise ursächlich für die höhere Inflationsrate. Dies kam bei der aktuellen Inflationsrate in dieser Stärke zum Tragen, weil die Energiepreise im Vorjahr sogar noch gefallen waren. Jedoch läuft dieser Effekt läuft demnächst aus, weshalb die Inflationsrate im Frühjahr wieder zurückgehen dürfte. Von einer Überauslastung der Wirtschaft kann also derzeit keine Rede sein. Und aus den genannten Gründen könnte die Wirtschaft durchaus einen Impuls vertragen.

Das ist eben die Wirkung von Unsicherheit: Die wirtschaftliche Dynamik bleibt verhalten, weil der Investitionsprozess nicht in Gang kommt. In der Folge bleibt auch der Preisauftrieb verhalten, er droht sogar immer wieder in eine deflationäre Spirale zu gleiten. Vor diesem Hintergrund ist ein Investitionsschub gesamtwirtschaftlich von Vorteil. Er kommt sogar auf Dauer dem einzelnen Haushalt zu Gute, der sich dann nicht nur über eine verbesserte Infrastruktur freuen darf, sondern auch über günstigere Einkommens- und Beschäftigungsperspektiven.

 

Zum Autor:

Gustav A. Horn ist wissenschaftlicher Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.

Hinweis:

Dieser Beitrag ist Teil einer Debattenserie zu der Frage, was der deutsche Staat mit seinen Haushaltsüberschüssen tun sollte. Hier finden Sie die anderen beiden Beiträge aus dieser Serie.