Brexit

Was Großbritannien und Griechenland jetzt gemeinsam haben

Bereits kurz vor dem heute eingereichten offiziellen britischen Austrittsgesuch hat die EU klargemacht, wie sie sich die Brexit-Verhandlungen vorstellt. Auf die Regierung von Theresa May kommen harte Zeiten zu – denn die EU dürfte jetzt mit den Briten ein ähnliches Spiel wie mit Griechenland spielen. Ein Kommentar von Frances Coppola.

Bild: Frankieleon via Flickr (CC BY 2.0)

Die EU hat ihre Verhandlungsstrategie für den Brexit bekanntgegeben. Natürlich noch nicht offiziell, schließlich hat Großbritannien erst heute den Artikel 50 ausgelöst, der den Scheidungsprozess einleitet. Aber die EU hat ihre Absichten bereits vorher in der Presse deutlich zum Ausdruck gebracht.

In einem Meinungsbeitrag in der Financial Times stellte Michel Barnier, der Brexit-Verhandlungsführer der EU, klar, wie er sich den Ablauf der Gespräche vorstellt. Er identifiziert drei entscheidende Punkte, die gelöst werden müssen, bevor es irgendwelche Gespräche über ein künftiges Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU geben kann:

  • Die Rechte von EU-Bürgern, die in Großbritannien leben und arbeiten,
  • die Fortsetzung der Finanzierung für Empfänger von EU-Programmen,
  • die Grenze zwischen Irland und Nordirland.

Der erste Punkt ist eine Antwort auf die anhaltende Weigerung der britischen Premierministerin Theresa May, die Rechte von EU-Bürgern zu garantieren, die momentan in Großbritannien leben. Bezeichnenderweise erwähnt Barnier die in der EU lebenden britischen Bürger nicht. Damit impliziert er, dass die EU nicht die Tausenden von britischen Rentnern beschützen wird, die in Spanien, Frankreich, Portugal und anderen sonnigen südeuropäischen Ländern leben, wenn May nicht die Rechte der EU-Bürger garantiert. Es läge dann in der Entscheidungsbefugnis dieser Länder, was mit den Briten passieren soll. Nett.

Der zweite Punkt ist ein Code für „Wir wollen unser Geld“. Dabei geht es um jene kontroversen 60 Milliarden Euro, die die EU-Kommission von Großbritannien beim Austritt haben will. Laut der Financial Times ist das die Rechnung für „unbezahlte Haushaltszusagen, Pensionsverpflichtungen, Kreditgarantien und Ausgaben für Projekte in Großbritannien“. Es ist kaum überraschend, dass die Hardliner aus dem Brexit-Lager dem widersprechen: Suzanne Evans von der UKIP-Partei sagte dem Publikum der BBC Question Time, dass Großbritannien „keinen Penny bezahlen sollte“, wenn es die EU verlässt. Duncan Smith, ein prominenter Leaver aus den Reihen der Torys erläuterte, dass Großbritannien auch seinerseits Forderungen an die EU hätte, die mehr als ausreichend wären, um jedwede britische Verbindlichkeit zu begleichen.

Letztlich dürfte die Rechnung wahrscheinlich deutlich geringer als 60 Milliarden Euro sein, aber sie dürfte ebenfalls deutlich über null liegen. Für die Brexiteers wäre das ein Problem – immerhin mussten sie schon ihr Versprechen relativieren, dass nach dem Brexit 350 Millionen Pfund extra pro Woche für das staatliche Gesundheitssystem NHS zur Verfügung stehen werden. Und jetzt werden sie damit konfrontiert, dass der EU-Austritt Großbritannien wahrscheinlich Geld kosten wird. Ich bin mir nicht sicher, wie sie das dem britischen Volk erklären werden, aber sie werden ohne Zweifel einen Sündenbock finden. Wahrscheinlich Theresa May.

Wenn Großbritannien verlangen kann, seine Grenzen zu kontrollieren, dann kann es die EU auch

Barniers erste zwei Bedingungen sollten keine Überraschung sein. Aber die dritte ist neu: Die britische Regierung hat die Frage der nordirischen Grenze und das Karfreitagsabkommen bisher immer als rein innenpolitische Angelegenheit behandelt. Barnier scheint das offenbar anders zu sehen – und er hat damit nicht ganz Unrecht. Denn die Grenze zwischen Nordirland und Irland ist auch eine EU-Grenze, und ein Bruch mit dem Karfreitagsabkommen würde die Sicherheit eines EU-Mitgliedsstaates bedrohen. Wenn Großbritannien verlangen kann, seine Grenzen zu kontrollieren, dann kann es die EU auch.

Barnier macht eindeutig klar, dass die künftigen Handelsbeziehungen solange nicht verhandelt werden, wie es keine Lösung für diese EU-Prioritäten gibt:

„Wenn wir diese drei signifikanten Ungewissheiten nicht an einem frühen Punkt lösen können, laufen wir Gefahr zu scheitern. Die Dinge in der richtigen Reihenfolge anzugehen erhöht die Chancen, eine Übereinkunft zu erzielen. Das bedeutet, zuerst hinsichtlich eines geordneten Austritts Großbritanniens übereinzukommen, bevor wir über ein künftiges Handelsabkommen verhandeln.“

Man sollte zur Kenntnis nehmen, dass Barnier die Bedingungen nicht auf die explizit genannten Punkte drei beschränkt. Der „geordnete Austritt Großbritanniens“ kann bedeuten, was immer die EU will.

Das Tantalus-Spiel

Dadurch, dass die EU den Handel solange vom Verhandlungstisch fernhält bis alles andere geklärt ist, befindet sich Großbritannien jetzt in einer ähnlichen Verhandlungsposition wie Griechenland: Bevor Griechenland den Schuldenerlass bekommt, den es so dringend braucht, muss es alle von den Gläubigern gestellten Bedingungen erfüllen. Und jedes Mal, wenn Griechenland kurz davorsteht, diese Bedingungen für einen Schuldenerlass zu erfüllen, erlassen die Gläubiger weitere Bedingungen oder finden Gründe, warum die Bedingungen nicht erfüllt worden sind.

Auf ähnliche Weise ist zu erwarten, dass die EU weitere Forderungen stellen wird, wenn Großbritannien kurz davorsteht, alle bisherigen Punkte zu erfüllen, um endlich über die Handelsbeziehungen sprechen zu können. Das ist das Tantalus-Spiel – und die EU ist eine sehr erfahrene Spielerin.

Aber warum will die EU das Tantalus-Spiel spielen? Nun ja, vor allem wegen der Attitüde, die das Brexit-Lager in der britischen Regierung an den Tag legt. Von Anfang an hat dieses Lager die Handelsbeziehungen über alles andere gestellt. Sie hätten kaum deutlicher zum Ausdruck bringen können, dass für Großbritannien ein neues Handelsabkommen mit der EU höchste Priorität hat.

Die Brexiteers haben wiederholt behauptet, dass die EU so scharf auf ein Handelsabkommen sei, dass sie Großbritannien schon Sonderkonditionen für den Zugang zum Binnenmarkt einräumen würde. „Denken Sie nur an all die deutschen Autos!“ rufen sie. Aber tatsächlich ist es so, dass Großbritannien im Falle eines Austritts ohne Handelsabkommen viel mehr zu verlieren hat als die EU. Und die von Barnier dargestellte EU-Verhandlungsposition bestätigt diese Sichtweise.

Für die EU gibt es überwältigende politische Gründe, extrem unwillig zu sein, einen solchen Deal abzuschließen. Es wäre ein tödlicher Stoß für das europäische Projekt, wenn sie einem Nicht-EU-Staat den gleichen Zugang zum EU-Markt wie einem EU-Staat geben würde. Die Brexiteers gehen fröhlich weiter davon aus, dass die wirtschaftlichen Implikationen eines Brexit für die EU wichtiger sind als die politischen – obwohl die Leave-Kampagne gerade deswegen erfolgreich war, weil in Großbritannien die Politik wichtiger ist als die Wirtschaft.

Für die Verhandlungsführer der EU ist der Erhalt des EU-Projekts wichtiger als jedwede ökonomischen Schmerzen, mögen sie auch noch so groß sein

Aber die Ereignisse der letzten Jahre haben ohne jeden Zweifel gezeigt, dass für die Verhandlungsführer der EU der Erhalt des EU-Projekts wichtiger ist als jedwede ökonomischen Schmerzen, mögen sie auch noch so groß sein. Politisch wäre es für die EU ein viel besseres Ergebnis, Großbritannien ohne Handelsabkommen ziehen zu lassen als den Briten ein Abkommen zu geben, dass dem bisherigen nahekommt. Indem sie den Handel überbetont, politische Imperative ignoriert und die britische Position übertrieben haben, spielten die Brexiteers Barnier voll in die Hände. Hallo, Tantalus.

Ein denkbar schlechter Start für Großbritannien

Unglücklicherweise kann es sich Großbritannien nicht erlauben, Tantalus zu spielen. Für Tantalus hatte das Elend nie ein Ende – aber für Großbritannien wird es ein Ende geben, und zwar schon viel zu bald: Die harte Zwei-Jahre-Deadline des Artikel 50 bedeutet, dass Großbritannien mit einer Waffe am Kopf verhandelt. Es ist also mehr Tosca als Tantalus. Barnier (vielleicht sollten wir ihn Scarpia nennen?) drückt das wie folgt aus:

„Je schneller wir uns auf diese Prinzipien einigen können, desto mehr Zeit werden wir haben, um unsere künftige Partnerschaft zu diskutieren.“

Du hast nur zwei Jahre, Theresa. Wenn du Großbritannien vor dem Handels-Erschießungskommando retten willst, dann erfülle unsere Bedingungen in jeder anderen Frage.

Aber das Erschießungskommando könnte mit der Exekution trotzdem fortfahren. Selbst wenn die EU innerhalb von zwei Jahren den Bedingungen für ein neues Handelsabkommen zustimmen würde – was sehr zweifelhaft ist, weil die Zustimmung der EU-Mitgliedsstaaten einzuholen in etwa so ist, als würde man einen Sack voll Flöhe hüten – dürfte es aus rechtlichen Gründen unmöglich sein, das Abkommen schon beim Austritt in Kraft zu setzen, da die EU durch ihre eigenen Verträge gebunden ist.

Artikel 50 wurde gerade erst ausgelöst – aber das Brexit-Team hat es bereits jetzt geschafft, Großbritanniens Verhandlungsposition durch seine toxische Kombination aus Ignoranz, Arroganz und Dummheit zu kompromittieren. Das ist wirklich ein sehr schlechter Start, Theresa.

 

Zur Autorin:

Frances Coppola arbeitete 17 Jahre lang als Analystin und Projektmanagerin für verschiedene Banken. Mittlerweile ist sie eine renommierte Kolumnistin in zahlreichen internationalen Zeitungen, darunter die Financial Times und der Economist. Außerdem bloggt sie auf Coppola Comment, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist.