Analyse

Brexit-Debatte: Wie Großbritannien von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat

Ängste vor Immigranten und Arbeitsplatzverlusten – die Argumente der Brexit-Befürworter erinnern sehr stark an die Debatte über Großbritanniens EWG-Beitritt im Jahr 1973. Die Datenlage zeigt allerdings, dass die EU-Mitgliedschaft für britische Angestellte ein Erfolg war.

Um Mitternacht am 1. Januar 1973 wurde der Union Jack an den europäischen Hauptquartieren in Brüssel gehisst, um Großbritanniens Eintritt in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu markieren. Mehr als 40 Jahre später bereitet sich Großbritannien auf ein weiteres Referendum vor, um über den Verbleib in der Europäischen Union zu entscheiden. Im Vorfeld des Referendums ist viel über die politischen Konsequenzen eines EU-Austritts, den sogenannten Brexit, gesagt worden.

Etwas weniger Aufmerksamkeit erhalten die ökonomischen Folgen des Brexit. Wie die „Out“-Wahlkämpfer der 70er Jahre behaupten auch die Befürworter eines Brexit, dass die EU-Mitgliedschaft britischen Arbeitern schade. Die Daten aus 40 Jahren unterstützen diese Behauptung nicht – und ein EU-Verbleib dürfte diese ökonomische Realität nicht verändern.

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Wahlplakat der Kampagne für einen Beitritt zum europäischen Binnenmarkt aus dem Jahr 1971. Quelle: Parliamentary Archives, DR/297, 1971.

Es gibt viel Unsicherheit darüber, welche Politik sich durchsetzen wird, wenn Großbritannien die EU verlässt. Daher ist die Brexit-Debatte von polarisierten ökonomischen Prognosen dominiert worden, die auf Annahmen beruhen, die die Überzeugungen derjenigen bestätigen, die diese Studien vorgenommen haben. Beispielsweise schätzt eine EU-Studie, dass die britische Wirtschaft bei fortgesetzter EU-Mitgliedschaft einen Nettogewinn von 2% des Bruttoinlandprodukts pro Jahr erzielen würde, während eine UKIP-Studie einen Nettoverlust von 5% errechnet.

Parallelen zur Kampagne der 70er Jahre

Die ökonomische Argumentation auf beiden Seiten erinnert sehr stark an die Debatte über Großbritanniens EWG-Beitritt im Jahr 1973. Es gab Ängste, dass dieser die Verbraucherpreise erhöhen und die Einkommensaussichten britischer Arbeiter durch Handel, Regulierungen und Immigration schädigen würde. Die aktuelle Debatte spiegelt ähnliche Bedenken mit ähnlich aufgeladenen Stimmen wider.

Britische Arbeiter haben von niedrigeren Preisen und höheren Realeinkommen profitiert

Aber was der heutigen Debatte abgeht, sind die Vorzüge eines Rückblicks. Wir haben inzwischen Daten aus 40 Jahren, um zu untersuchen, was tatsächlich mit den Preisen und Arbeitsplätzen passiert ist, seit Großbritannien dem europäischen Binnenmarkt beigetreten ist – und die Daten zeigen, dass britische Arbeiter von niedrigeren Preisen und höheren Realeinkommen profitiert haben.

Der gemeinsame Binnenmarkt hat die Handelsbarrieren unter den Mitgliedsstaaten reduziert. Das führte zu einem verstärkten Wettbewerb unter den Unternehmen, die ihre Margen (Preise abzüglich Kosten) verringerten, die sie von den Konsumenten verlangten. Ein Blick auf die Preise für Fertigwaren in zehn EU-Mitgliedsstaaten zeigt, dass die Margen der Firmen von 38% auf 28% der Kosten gefallen sind.

Der Einfluss des Binnenmarktes auf die Konsumentenpreise wird auch durch die Reduzierung der Preisstreuung unter den europäischen Städten deutlich. Durch die Vereinigung der Märkte erhalten Konsumenten leichteren Zugang zu den Märkten in anderen Ländern, was zu einer Angleichung von Preisen für ähnliche Produkte in allen Ländern führt. Die Betrachtung der lokalen Preise für dutzende Produkte wie „Weißbrot (1kg)“, „Männerhaarschnitt“ und „Strickjacken“ zeigt eine deutliche Reduzierung der Preisstreuung für Güter, die zwischen den Ländern innerhalb des Binnenmarktes gehandelt werden, vergleichbar mit dem Level der Preisstreuung, dass auch unter den verschiedenen Städten in den USA herrscht.

Britische Unternehmen haben ihre Produktion ausgeweitet, nachdem sie besseren Zugang zu den europäischen Märkten hatten

Die niedrigeren Preise hätten den britischen Arbeitern nur wenig genutzt, wenn der Wettbewerb durch den Binnenmarkt ihre Jobaussichten beeinträchtigt hätte. Aber tatsächlich haben die britischen Unternehmen ihre Produktion ausgeweitet, nachdem sie besseren Zugang zu den europäischen Märkten hatten. Der Binnenmarkt hatte einige Veränderungen der Produktmärkte zur Folge, wie etwa die Reduzierung der nicht-tarifären Handelshemmnisse innerhalb Europas und eine effektive Durchsetzung der Regeln des Binnenmarktes. Diese Reformen steigerten die Reallöhne der britischen Arbeiter, die Arbeitslosigkeit fiel um geschätzt 0,7 Prozentpunkte. Die Firmen intensivierten auch ihre Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, was zu einer Steigerung der Produktivität im Verarbeitenden Gewerbe führte.

Der Binnenmarkt hat die Barrieren für die Bewegungsfreiheit von Menschen innerhalb der EU gesenkt. Genau wie heute war dies auch damals eines der wichtigsten Themen, das starke Ängste vor europäischen Immigranten, die britische Arbeiter verdrängen würden, hervorgerufen hat. Mehr als ein Drittel der Immigranten in Großbritannien kommen aus EU-Ländern, aber es gibt nach wie vor keinen überzeugenden Beweis, dass die Einwanderung einen negativen Effekt auf die Arbeitsplätze und Löhne britischer Arbeiter hatte. Sogar nach der EU-Erweiterung und der jüngsten Finanzkrise weisen die Counties mit den stärksten Zuwanderungsquoten weder größere noch kleinere Zuwachsraten für Arbeitslosigkeit oder Löhne unter der in Großbritannien geborenen Bevölkerung auf, wie Grafik 1 zeigt. Das gilt auch für Arbeiter im Niedriglohnbereich, die vermutlich am anfälligsten für einwanderungsbedingten Arbeitsplatzdruck sind.

Grafik 1: Arbeitslosenquote der in Großbritannien geborenen Bevölkerung (2004-2012)

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Anmerkung: Die Grafik zeigt, dass es keine Korrelation zwischen den Veränderungen bei der Zuwanderung und der Arbeitslosigkeit unter in Großbritannien geborenen Angestellten gibt. Quelle: Wandsworth (2015)

Grafik 2: „Less skilled youth NEET rate“ für die in Großbritannien geborene Bevölkerung (2004-2012)

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Quelle: Wandsworth (2015)

Dies zeigt, dass der Binnenmarkt den britischen Arbeitern nicht geschadet hat. Und es gibt Gründe zu glauben, dass eine fortgesetzte EU-Mitgliedschaft weitere Vorteile bieten würde. Die EU wird sich auch künftig auf Veränderungen konzentrieren, z. B. auf die Abschwächung von Dienstleistungsbarrieren, die die Konsumentenpreise senken und die Beschäftigungsmöglichkeiten in Großbritannien erhöhen dürften.

Verglichen mit dem Warenhandel gibt es immer noch erhebliche Barrieren für den Handel von Dienstleistungen unter den EU-Mitgliedsstaaten. Ein Beleg dafür ist, dass die Kräfte, die zu einer Verringerung der Margen für Fertigwaren durch den Binnenmarkt geführt haben, im Dienstleistungsbereich noch nicht wirken. Daher hätten britische Konsumenten erhebliche Vorteile von der künftigen Vertiefung des Dienstleistungsbereichs in Europa zu erwarten.

Ein weiterer Beleg ist, dass die Produktregulierungen in den importierenden Ländern einen negativen Einfluss auf das Handelsvolumen mit Dienstleistungen haben, aber nicht auf den Warenhandel. Großbritannien ist ein Netto-Exporteur von Dienstleistungen in die EU und somit würde eine künftige Reduzierung der Handelsbarrieren für Dienstleistungen britischen Firmen neue Exportchancen bieten. Konservative Schätzungen des Centre for Economic Performance erwarten Zugewinnen in Höhe von 1 bis 3% des britischen Bruttoinlandprodukts.

Die weitere Integration in Europa zu verpassen würde das britische Wachstumspotenzial begrenzen. An diesem Punkt geht es bei der Integration nicht darum, Zollsätze zu senken. Es erfordert vielmehr politische Handlungen, wie beispielsweise die Abschaffung von regulatorischen Differenzen im Dienstleistungsbereich, die extrem schwierig werden, wenn Großbritannien kein vollwertiges EU-Mitglied mehr wäre.

Selbst die lautstärksten Brexit-Unterstützer sind sich einig, dass Großbritannien seine Grenzen für den Handel mit der EU offenhalten sollte. Was sie oft übersehen ist, dass die Mitgliedschaft britischen Arbeitern in der Vergangenheit nicht geschadet hat und das eine Fortsetzung dieser Mitgliedschaft sicherstellen würde, dass Großbritannien eine Stimme in den Verhandlungen über die zukünftige Gestalt der EU hätte.

 

Zur Autorin:

Swati Dhingra unterrichtet am Department of Economics and Centre for Economic Performance an der London School of Economics.

Hinweis:

Die englische Originalfassung des Textes ist zuerst erschienen auf dem EUROPP-Blog der London School of Ecnomics and Political Science (LSE). Die Übersetzung erfolgte mit Genehmigung von EUROPP.