Fremde Federn

AI-Bullshitter, Indien-Wahl, Ukraine

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Acht Missverständnisse über die Energiewende, was Big Tech blüht und warum es Wohlstand nur mit Klimaschutz geben kann.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst Forum (früher piqd) eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. Formum.eu versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Was Big Tech blüht

piqer:
Jannis Brühl

In Zeiten von Inflation, Kriegen und Kulturkampf geht die Technologiepolitik der Regierung Joe Biden und anderer US-Staatsorgane etwas unter. Dabei geschieht hier bemerkenswertes, was auch direkte Auswirkungen auf Europa haben dürfte. Die New York Times hat die wichtigsten Verfahren gegen Amazon, Apple, Google und Meta zusammengestellt.

Justizministerium und die US-Handelskommission FTC sind federführend bei den Verfahren gegen die Konzern-Elite, die lange der Stolz der USA war. Nun sind die Unternehmen aber in den Fokus der Kritik geraten, nicht nur unter Politikern (die allerdings immer auch im Verdacht stehen, das Silicon Valley als Blitzableiter für eigene Verfehlungen zu missbrauchen, etwa beim Thema „Hatespeech“ und Marktversagen). Genau deshalb ist eine Besonderheit dieser Fälle: Das Vorgehen gegen Big Tech wird auch von vielen Republikanern unterstützt, das gibt es sonst eigentlich nur beim Thema China.

Die Fälle sind:

  • Amazon. Handelskommission und 17 Bundesstaaten verklagen den Handelskonzern. Der Vorwurf: Amazon soll seine Monopolstellung missbraucht haben, um Händler auf seiner Marketplace-Plattform zu schröpfen.
  • Apple. Das Justizministerium verklagt den iPhone-Konzern, weil der Konkurrenz zu eigenen Apps zum Beispiel beim Messaging und bei digitalen Wallets behindere.
  • Google. Zwei Klagen könnten Google gefährlich werden: Eine wegen des Aufkaufens kleinerer AdTech-Unternehmen und der Dominanz auf diesem Markt. Eines, das als erstes entschieden wird, wegen des Monopolvorwurfs bei der Online-Suche.
  • Meta. Die Handelskommission und 40 Bundesstaaten wollen eine der größten Tech-Firmenübernahmen des vergangenen Jahrzehnts für illegal erklären: Facebooks Kauf von Whatsapp. Zusammen mit Facebooks (spottbilliger!) Übernahme von Instagram soll der daraus resultierende Konzern Meta ein Monopol auf dem Social-Media-Markt haben.

Interessant, dass die Konzerne in mehreren Fällen argumentieren, die Forderungen der Behörden würden ihre Produkte verteuern oder schlechter nutzbar für den Kunden machen. Denn anders als in Deutschland, wo unlauter erzielte Gewinne und Behinderung von Konkurrenten schon an sich als Monopolmissbrauch gelten können, gilt in den USA für gewöhnlich der consumer welfare standard: Wenn es gut für den Konsumenten ist, ist ziemlich egal, ob die Strukturen im Hintergrund problematisch sind. Die US-Handelskommission versucht diesen Ansatz, wie man sieht, grundlegend zu ändern.

Wohlstand kann es nur mit Klimaschutz geben

piqer:
Ole Wintermann

Es ist erstaunlich: Während liberale und konservative Parteien in Deutschland das falsche Narrativ verbreiten, dass zwischen Klimaschutz und „Wohlstand“ (wobei die VertreterInnen dieser Parteien bis heute nicht erklärt haben, was sie unter diesem ominösen Wohlstand eigentlich verstehen) gewählt werden müsse, veröffentlichen die Kern-Institutionen der Marktwirtschaft (andere würde es Kapitalismus nennen) wie das World Economic Forum in schöner Regelmäßigkeit datenbasierte Reports, in den ausführlich dargelegt wird, dass wir mit unserer Marktwirtschaft längst mehr Wohlstand zerstören als Wohlstand schaffen.

Aktuell ist es das SwissRe-Institute, das in seiner SONAR-Jahresserie die Polykrisen zusammenfasst und darauf verweist, dass die Klimakrise als existenzielle „Hintergrund-Krise“ zu steigenden ökonomischen Schäden führt, die mittelfristig auch in umfangreichen menschlichen und gesundheitlichen Schäden münden werden:

„Climate risks present an existential threat to societies. 2023 was the hottest year on record and climate change translates into variations in the frequency and severity of some natural hazards, bringing higher economic losses for certain perils in some regions in the world. (..). Over the longer term, climate change effects may also drive food and water shortages, and mass migration pressures that in turn could destabilise societies and international relations. (..). Currently a focal impact area of concern is supply chain resilience.“

Die SONAR-Publikation liest sich wie eine moderne Landkarte der globalen Krisen und der Unfähigkeit der meisten Menschen, diese Krisen wahrzunehmen und anzugehen.

Es wird daher Zeit, dass die Menschen, die um diese Gefahren wissen, in Talkshows, auf Konferenzen, als RednerInnen in Panels, als AutorInnen den Mythos von der Entscheidung zwischen Klimaschutz und Wohlstand als das demaskieren, was es letztlich ist: eine dreiste Lüge.

Indiens Wahl – Einparteienstaat und neue Weltmacht?

piqer:
Thomas Wahl

Indien hat gewählt. Eine Wahl, die hinter der Europawahl etwas aus dem Blick geraten zu sein scheint. Dabei handelt es sich durchaus um ein Ereignis der Superlative. Der Economist dazu:

Die größte Wählerschaft der Welt hat soeben gezeigt, wie die Demokratie abgehobene politische Eliten zurechtweisen, die Machtkonzentration begrenzen und die Geschicke eines Landes verändern kann. Nach einem Jahrzehnt an der Spitze des Landes wurde Narendra Modi ein erdrutschartiger Sieg bei den diesjährigen Wahlen vorausgesagt. Doch am 4. Juni wurde klar, dass seine Partei ihre parlamentarische Mehrheit verloren hat und er gezwungen ist, mit einer Koalition zu regieren. Das Ergebnis bringt das Projekt Modis zur Erneuerung Indiens teilweise zum Scheitern. Es wird auch die Politik unübersichtlicher machen, was die Finanzmärkte verschreckt hat. Und doch verspricht es, Indien zum Besseren zu verändern. Das Ergebnis verringert das Risiko, dass das Land in eine Autokratie abgleitet, stärkt es als Pfeiler der Demokratie und eröffnet, wenn Modi bereit ist, sich anzupassen, einen neuen Weg zu Reformen, die die rasche Entwicklung des Landes unterstützen können.

Auch die indische Demokratie selbst verkörpert, nach Shruti Kapila im empfohlenen Artikel, global so etwas wie eine Superlative. Es könnte in seiner Größe, Buntheit, Komplexität und Dynamik für die Zukunft der Welt prägender sein als unser alterndes, depressives Europa:

Im Jahr 2022 löste Indien seinen einstigen imperialen Meister Großbritannien ab und wurde zur fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt. Im Jahr 2023 überholt Indien dann China mit 1,4 Milliarden Menschen und wurde das bevölkerungsreichste Land der Erde. Seine regionale Vielfalt lässt Europa einfarbig erscheinen, denn es werden mehr als 20 offizielle Sprachen gesprochen. Mit 205 Millionen Muslimen – 15,5 Prozent der Bevölkerung – ist es das Land mit der zweitgrößten muslimischen Bevölkerung der Welt. Mit der jüngsten und größten Bevölkerung der Welt kann Indien als Träger der Zukunft der Menschheit angesehen werden.

Die Indische Parlamentswahl 2024 wurde in sieben Phasen durchgeführt, vom 19. April bis zum 1. Juni 2024. Dabei waren 968 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen. Das indische Parlament (Lok Sabha) hat 543 Sitze (das deutsche Parlament umfasst 733 Sitze). Zur Auszählung und Ergebnisverkündung kam es am 4. Juni. Das Parteienbündnis Nationale Demokratische Allianz (NDA) unter der Führung von Premierminister Narendra Modi erreichte zwar mit 240 Sitzen die für die Regierungsbildung erforderliche Schwelle, seine Partei BJP verlor aber die Mehrheit im Parlament. International haben deshalb die indischen Wahlen unter Modi ein sehr breites Echo gefunden. Die klare Einschätzung: Die langfristige Strategie des Narendra Modi ist erst mal gescheitert. Diese Wahl war

im Grunde ein Plebiszit über einen einzigen Mann. Mit 73 Jahren bekleidet Modi das höchste indische Amt bereits seit einem Jahrzehnt. Tatsächlich hat Modi seit den ersten Jahren dieses Jahrhunderts ununterbrochen hohe öffentliche Ämter bekleidet. Zunächst war er ab 2001 Ministerpräsident des wirtschaftlich starken westlichen Bundesstaates Gujarat, bevor er 2014 in das mächtigste Amt aufstieg. Es war Modi, der 2014 seiner BJP ein Mandat verschaffte, das Indiens Regierung auf den Hindu-Nationalismus festlegte. Sein darauffolgendes und noch größeres Mandat im Jahr 2019 begann damit, offen Gesetze für ein Hindu-first-Indien zu erlassen.

Noch unmittelbar vor den Wahlen gab sich Modi, der seit zehn Jahren keine Pressekonferenz mehr gegeben hat, vor ausgewählten globalen und indischen Medien siegesgewiss und erklärte die Neugestaltung Indiens zu seiner persönlichen Mission. Für ihn ging es um nichts Geringeres als um die Identität Indiens.

Modis Vision ist die eines neuen Indiens – oder die Rückkehr zum alten Namen Bharat, den er popularisieren (oder sogar als offiziellen Namen des Landes einführen) möchte. Auch wenn dieser Vorschlag Vorstellungen von zivilisatorischer Größe oder einem längst vergangenen goldenen Zeitalter projiziert, deutet er auf eine Zukunft hin, in der globale Statusspiele und eine ausgrenzende nationale Kultur dominieren. Indem sie solche Debatten anheizen, signalisieren Modi und seine BJP ganz bewusst eine neue politische, wirtschaftliche und globale Vision für Indien. Analysten und Kritiker beschreiben Indien unter Modi oft als „illiberale Demokratie“ oder sogar als „Wahlautokratie“, …

Mit seinen 240 Sitzen wird die NDA nun zwar die Regierung bilden, und Modi wird zum dritten Mal den Eid als Premierminister Indiens ablegen. Damit ist er der dritte Regierungschef in der Geschichte Indiens, dem dies gelingt. Wie aber Surbhi Gupta im New Lines Magazine betont,

wird er zum ersten Mal in seiner politischen Laufbahn eine Rolle in einer Koalitionsregierung übernehmen, was bedeutet, dass er eng mit den Bündnispartnern zusammenarbeiten, die Macht mit den regionalen Parteien in der Regierung teilen und auf deren Forderungen eingehen muss. Die BJP „wird regelmäßig Treffen mit ihren Verbündeten einberufen müssen, um die Stimmung zu überprüfen; sie wird sie an Bord holen müssen, bevor sie über heikle Themen entscheidet“, …. Aus diesem Grund wird das Ergebnis als eine Niederlage in einem Sieg für Modi und die BJP bezeichnet.

Andere politische Beobachter, so das Magazine weiter, formulierten es härter.  Modi – und die BJP seien von den indischen Wählern „gedemütigt“ worden. Schlagzeilen lauteten:

„Indien stürzt Modi“, „Indien blüht, der Lotus verwelkt“ (ein Lotus ist das offizielle Symbol der BJP) und “ Milliardärsfreund Modi wird von Indern gedemütigt, die 4 Dollar pro Tag verdienen“. Die vorherrschende Meinung unter Menschen mit einer Vielzahl von politischen Zugehörigkeiten ist, dass Modi sein Mandat aufgrund seiner Arroganz und Überheblichkeit verloren hat. „Wie aus Berichten vor Ort hervorgeht, ist dieses Mandat eine Ablehnung der illiberalen Agenda, sowohl im sozialen als auch im wirtschaftlichen Bereich, die Premierminister Narendra Modi in den letzten zehn Jahren vorangetrieben hat“, …..

Es ist sicher noch viel zu früh, das als eine endgültige Niederlage zu interpretieren. Shruti Kapila hat sicher recht, Modi wird weiter seine Machtmittel einsetzen und er wird vielleicht auch lernen:

Als kaderbasierte Partei, die doppelt so groß ist wie die Kommunistische Partei Chinas, ist die BJP mit 180 Millionen Mitgliedern nicht nur die größte politische Partei der Welt, sondern mit fast 6 Milliarden Dollar in ihren Kassen auch eine der reichsten Parteien der Welt. Zusammen mit einer Reihe anderer Mitgliedsorganisationen – insbesondere der 1925 gegründeten paramilitärischen Organisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), die sich mit über fünf Millionen Freiwilligen der Verwirklichung der Hindutva oder des politischen Hinduismus verschrieben hat – steht Modi an der Spitze einer gewaltigen und effizienten politischen Maschinerie.

Aber auch die indische Opposition ist aktiv und lernt. Ihr Gesicht ist Rahul Gandhi,  der zunächst durch den Bharat Jodo Yatra (Marsch der Einheit) im Winter 2022 und 2023 und den kürzlich abgeschlossenen Nyaya Yatra (Marsch für Gerechtigkeit) eine eigene Kampagne ins Leben gerufen hat. Seine Anhänger wollen den Akt des Gehens, als Zeichen der Gewaltlosigkeit, den Gewaltakten der Hinduaktivisten symbolisch entgegenstellen. Dazu kommt,

Gandhis Kongresspartei, die auf einen fraktionierten Rest reduziert ist, hat Karnataka, einen der reichsten Bundesstaaten und das Technologiezentrum Indiens, der BJP in einer folgenschweren Wahl im Jahr 2023 abgerungen, was sie zu einer mächtigen Startrampe für eine nationale Kampagne gegen Modi macht. Sechsundzwanzig kleine und große Parteien, darunter auch der Kongress, haben sich zu einer noch nie dagewesenen Einheit gegen Modi zusammengeschlossen. Als Antwort auf die verführerische Kraft von Symbolen hat sie sich nach der Nation benannt: I. N.D.I. A. (Indian, National, Inclusive Development Alliance).

Es ist sicher noch ein weiter Weg bis in eine nationale Regierung. Aber indem die Opposition wirtschaftliche Gerechtigkeit zum zentralen Wahlkampfthema machte, hat sie gute Chancen in breiten Kreisen der Bevölkerung – quer durch Kasten und Religionen. Das besonders angesichts der Rekordarbeitslosigkeit, der Ungleichheit und der steigenden Preise für Güter des täglichen Bedarfs. Der durch Modi geschürte nationale Ehrgeiz, der ein Jahrzehnt lang die politische Landschaft dominierte, wurde durch einen neuen Realismus gekontert.

Das heißt, während Modi sich auf das neue Indien konzentriert hat, ist es der Opposition gelungen, den Fokus auf das Leben der Inder zu verlagern.

Acht Missverständnisse über die Energiewende

piqer:
Rico Grimm

Über die Energiewende wird viel geschimpft, diskutiert, polemisiert – oft mit Missgunst, aber immer wieder entdecke ich neugierige, wohlwollende Menschen, die trotzdem verbreiteten Missverständnissen aufsitzen.

Manchmal ist einer dieser Menschen auch Picker bei Forum.eu und heißt Rico Grimm. Ich habe aus dem Text, den ich heute empfehle, viel mitgenommen. Darin zeigen zwei Analysten, welche großen abstrakten Fehler Menschen immer wieder machen, wenn sie sich über die technisch-ökonomische Revolution beugen, die die Energiewende ist. Es sind insgesamt acht Fehler. Ich greife mir zwei heraus. Der Fehler, den auch ich aufgesessen bin:

The error is to focus on stocks, which are the installed base that has accumulated over time.

Wer wissen will, wie es um den Verkehrssektor steht, sollte sich nicht die totalen Zahlen von E-Autos anschauen, sondern, wie sich deren Verkäufe entwickeln.

Und noch ein zweites Missverständnis, sehr weitverbreitet auch in der Klimabewegung selbst:

The error is to look only under the climate streetlight, thinking the sole driver of the energy transition is halting climate change.

Klimaschutz ist nicht mehr der einzige Grund für die Energiewende. Erneuerbare Energien sind billiger und effizienter als fossile. Das machen sich immer mehr Akteure zunutze, die eigentlich nichts mit Klimaschutz am Hut haben. Wie sonst ist zu erklären, dass zum Beispiel Texas zur Erneuerbaren-Hochburg in den USA wird?

Ukrainische Landwirtschaft im Krieg und danach – wohin geht sie?

piqer:
Thomas Wahl

„Commons“ ist eine linke gesellschaftskritische ukrainische Zeitung für Wirtschaft, Politik, Geschichte und Kultur, die 2009 gegründet wurde. Sie unterscheidet sich nach eigenen Aussagen von anderen ukrainischen Medien durch den Blick auf die strukturellen Ursachen sozialer Probleme sowie durch ihr materialistisches Herangehen. Die Redaktion vertritt demnach antikapitalistische Positionen.

Der hier empfohlene Artikel gibt Antworten auf Fragen, wie es um den Zustand der Landwirtschaft während des Krieges in der Ukraine steht, was die Auswirkungen einer Landreform auf die Zukunft des Landes waren und sein könnten und wie ein sozial-ökologischer Ansatz für die Landwirtschaft nach dem Krieg gestaltet werden sollte? Weitgehend ausgewogene, bedenkenswerte und interessante Antworten gibt

… Dr. Natalia Mamonova – leitende Forscherin bei RURALIS, ein Institut für ländliche und regionale Forschung in Norwegen und Mitautorin einer Studie „Ukrainische Landwirtschaft in Kriegszeiten: Resilienz, Reformen und Märkte“, die vom Transnational Institute (TNI) veröffentlicht wurde.

Man lernt viel über die ukrainische Politik und über ihre Landwirtschaft. Demzufolge  hat die ukrainischen Landwirtschaft eine „bimodale landwirtschaftliche Struktur“, in der große Agrarunternehmen und kleine Bauernhöfe nicht direkt um Land und Märkte konkurrieren, so dass sie jahrelang koexistieren können.

Es gibt eine große Agrarindustrie, die sich in erster Linie auf die Produktion von Getreide für den Export orientiert. Es kultiviert etwa 50% aller Ackerland und produziert die Hälfte der inländischen Bruttolandwirtschaftsproduktion. Die andere Hälfte wird von Familienbauern und ländlichen Haushalten produziert, die die restlichen 50% des Landes bewirtschaften. Familienbauern und ländliche Haushalte produzieren 95% Kartoffeln, 85% Gemüse, 80% Obst und Beeren, etwa 75% Milch und mehr als 35% Fleisch für den persönlichen Verzehr und Verkauf auf den heimischen Märkten.

Zunehmend versuchen nun die Familienbetriebe auch in den Getreideexport einzusteigen. Wobei es hier schwer ist, mit der großen Agrarindustrie zu konkurrieren.

Diese zweiteilige landwirtschaftliche Struktur entstand nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch eine Landreform. Diese sollte das ehemals kollektivierte Land an die ländliche Bevölkerung verteilen, um eine private Landwirtschaft zu ermöglichen.

Die Reform scheiterte weitgehend, und das Land verblieb in reorganisierten Kollektiven, die sich später in moderne Industriebetriebe und Agrarholdings verwandelten. Das 20-jährige Moratorium für Landverkäufe sicherte aber den ukrainischen Dorfbewohnern die Rechte an Land, die das verteilte Land für wenig Geld oder für Naturalien an die Agrarindustrie verpachteten, während sie selbst ihre Grundstücke an den Höfen weiter bewirtschafteten.

Das hat in der Ukraine ein direktes „Land Grabbing“ und eine direkte Enteignung von Kleinbauern blockiert. Aber „die Agrarindustrie“ kontrolliert die Wertschöpfungskette der Agrar- und Ernährungswirtschaft und erhält auch die meisten Agrarsubventionen. Damit sind die Familienbetriebe behindert, sich effektiver zu entwickeln.

Einen weiteren Grund für die Koexistenz von Groß und Klein sei der weit verbreitete Glaube, dass „groß schön ist“.

Dieser Glaube ist zum Teil in der sowjetischen Geschichte verwurzelt, zum Teil wurde er von der neoliberalen kapitalistischen Ordnung aufgezwungen, die das Großkapital sowohl strukturell als auch ideologisch begünstigt. Dieser Glaube hat sich in den Köpfen der ukrainischen Politiker festgesetzt und wurde von den Agroholdings über viele Jahre hinweg propagiert. Dadurch wurde die Ukraine zum weltweit führenden Getreideexporteur.

Vor dem Krieg machte der Agrarsektor sehr gewichtige 45% der ukrainischen Exporteinnahmen aus. Ob das mit einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft auch zu erreichen wäre, halte ich allerdings für fraglich.

Sicher hat der Ukraine-Krieg die systemische Anfälligkeit der globalisierten (angeblich neoliberalen) Landwirtschaft gezeigt, die durch eine enge Spezialisierung, die Abhängigkeit vom internationalen Handel und eine angeblich extreme Abhängigkeit von nur wenigen Grundnahrungsmitteln für die meisten Menschen gekennzeichnet sei.

Die exportorientierte ukrainische Landwirtschaft war in den ersten Monaten des Krieges lahmgelegt. Entlang der ukrainischen Grenzen türmten sich Berge von Getreide, als die Schwarzmeerhäfen von der russischen Marine blockiert waren und die Landwege nicht ausreichten, um das gesamte Getreide zu transportieren. Darüber hinaus wurden die Lieferungen von Treibstoff und Düngemitteln gestoppt, die zuvor aus Russland und Weißrussland importiert worden waren. Und natürlich bombardiert Russland weiterhin landwirtschaftliche Felder, zerstört landwirtschaftliche Einrichtungen und Infrastruktur. Die Liste der Zerstörungen ist endlos!

Sicher erscheint auch, das es für eine große und komplexe Agrarindustrie zunächst schwerer ist, sich schnell an die Erschütterungen und Herausforderungen eines Krieges anzupassen.

Familienbetriebe und ländliche Haushalte, die sich außerhalb der aktiven Kampfgebiete befanden, konnten sich dagegen relativ schnell anpassen und Nahrungsmittel produzieren, um sich selbst, ihre Gemeinden, die Armee und die Menschen in der Ukraine zu ernähren.

Was wiederum kein Grund sein kann, die Welt zukünftig auf kleinbäuerliche Betriebe umzustellen. Und so formuliert Natalia Mamonova:

Ich denke nicht, dass wir versuchen sollten, die großindustrielle Landwirtschaft in der Ukraine in ihrem Kern zu beseitigen. Das wäre zu extrem und unrealistisch. Erstens generiert die Agrarindustrie Haushaltseinnahmen, die für den Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg benötigt werden (vor dem Krieg machte der Agrarsektor 45 % der Exporterlöse aus). Zwar gibt es auch genug Fälle von Steuerhinterziehung im großen Stil durch die Agrarindustrie, aber wir dürfen die Bedeutung des Großkapitals für die Wirtschaft der Ukraine nicht unterschätzen. Zweitens ist die Welt auf das Getreide aus der Ukraine angewiesen, und unser Land hat das Land, das geeignete Klima und die Ressourcen, um die „Kornkammer der Welt“ zu bleiben. Ich denke jedoch, dass es wichtig ist, großen Unternehmen mehr Beschränkungen aufzuerlegen, einschließlich Umweltauflagen, und die Agrarwirtschaft transparenter zu machen. Es ist auch wichtig, dass die ukrainische Regierung die Prioritäten in ihrer Agrarpolitik von einem „big is beautiful“-Ansatz auf die Unterstützung von Familienbetrieben und ländlichen Haushalten verlagert.

Das ist m.E. ein diskussionswürdiger Ansatz. Auch wenn ich nicht glaube, das sich die Welt ernsthaft von einer globalisierten, exportorientierten Landwirtschaft abwenden wird. Was aber diversifizierte Lieferketten nicht ausschließt. Ein großer Weltkrieg könnte natürlich auch das zerstören und den Hunger in der Welt wieder überall allgemein machen.

ChatGPT is Bullshit

piqer:
René Walter

Im Jahr 2005 erschien das Buch „On Bullshit“ des amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt, in dem er zwischen Lügen (Unwahrheiten mit der Intention, die Wahrheit zu verschleiern) und Bullshit (Aussagen, die wahr oder falsch sein können und angewandt werden, um die Intention des Akteurs zu verschleiern) unterscheidet. Das Buch war ein globaler Bestseller und inspirierte Bullshit-Kurse an Universitäten – heute ist der Begriff ein gängiger Term in akademischen Arbeiten, etwa in dem breit diskutierten Aufsatz „On the reception and detection of pseudo-profound bullshit„.

Seit dem Start von ChatGPT wurde AI-Technologie in dutzenden von Artikeln mit Bullshit im Frankfurterschen Sinne verglichen: Ein sprachsimulierendes System, das ohne Anbindung zur Wirklichkeit funktioniert und dem es völlig egal ist, ob seine Aussagen wahr oder falsch sind. Nun haben Michael Townsen Hicks, James Humphries und Joe Slater ein wissenschaftliche Paper dazu veröffentlicht, in dem sie im Detail untersuchen, ob AI-gestützte Sprachmodellierer und Chat-Systeme nun selbst Bullshitter sind, oder einfach nur genauso Bullshit produzieren können wie Bleistifte.

Die Autoren des Papers konzentrieren sich vor allem auf Terminologie bezüglich falscher Outputs, die angeblichen „Halluzinationen“, die aber keine tatsächlichen Halluzinationen sind, da den LLM-Systemen eine Wahrnehmung fehlt, die verzerrt oder verfälscht sein könnte. Daher das Fazit des Papers: „(ChatGPT) is bullshitting, even when it’s right.“

Die tatsächliche Intention der Produzenten von Sprachmodellen, die mit den Stimm- und Text-Ausgaben verschleiert werden soll, und der Kern-Bullshit von AI-Chatbots liegt in der mimetischen Menschenähnlichkeit: ChatGPTs sprachsimulierendes Interface mit der kuscheligen Stimme eines Scarlett Johansson-soundalike, das wahrheitsindifferenten Text (also Bullshit) erzeugt, verdeckt die ausbeuterischen und klimaschädlichen Wahrheiten hinter der Technologie, was uns erneut zu OpenAIs mimetischen Masken führt, über die ich vor einem Monat schrieb.

Medientheoretiker Hannes Bajohr schrieb vor einem Jahr einen Text über „artificial and post-artificial Text“, in dem er Roland Barthes „Tod des Autors“ für AI-Technologie adaptierte und ihr bescheinigte, zu einer Irrelevanz des Text-Ursprungs zu führen. Im Pick dazu schrieb ich darüber, warum wir schon lange mit dieser post-artifiziellen Haltung zum geschriebenen Wort leben – schließlich sind die Autoren eines sehr großen Teils unserer menschlichen Kommunikation, von Werbung über Trivial-Literatur bis zum Wetterbericht, mehr als egal.

Die mimetischen Masken der Sprachmodelle – mimetischer Bullshit! –, die über die Nichtmenschlichkeit der Sprachsimulanten hinwegtäuschen sollen, arbeiten gegen eine solche egalitäre Haltung gegenüber dem Autoren – sie sind dazu gedacht, echte Menschen hinter den AI-Interfaces zu vermuten. Am weitesten gedacht ist diese Selbst-Täuschung durch AI-Bullshit in der AI-Companion-Industrie, die einsamen Menschen ermöglicht, sich einen Partner vorzugaukeln, ohne irgendwelche störenden Idiosynkrasien, immer präsent und allzeit bereit.

Wie der jüngst verstorbene Philosoph Daniel Dennett tendiere auch ich dazu, die Menschenähnlichkeit von AI-Systemen, von ihm als „Counterfeit People“ bezeichnet, als eine der heikelsten und wirkmächtigsten Eigenschaften der Sprachmodelle zu sehen. Dennett forderte Gefängnisstrafen für die Produzenten menschenähnlicher AI-Modelle, und auch wenn ich soweit (noch) nicht gehen möchte, erscheint mir eines völlig klar, dank dieses Papers nun auch medientheoretisch sauber hergeleitet: Counterfeit People sind Bullshit.