Replik

Warum die unbezahlte „Sorge- und Versorgungsarbeit“ nicht ins BIP gehört

Es ist absolut notwendig, geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und bei den Einkommen weiter abzubauen. Die Arbeit im eigenen Haushalt wie Erwerbsarbeit zu betrachten oder sogar zu bezahlen zu wollen, würde dagegen keinen Sinn machen. Eine Replik von Ralf Krämer.


Im Juni haben Anja Peter und Christine Rudolf an dieser Stelle einen „feministischen Blick auf eine zukunftsfähige Versorgungsökonomie“ präsentiert. Ich kann das Interesse an einer möglichst gewichtigen und wertschätzenden Darstellung der überwiegend von Frauen geleisteten unbezahlten Arbeit in privaten Haushalten nachvollziehen und finde es grundsätzlich berechtigt. Allerdings erscheint mir die Darstellung und Interpretation einiger Daten in dem Artikel unzureichend oder problematisch. Darüber hinaus sind auch einige Schlussfolgerungen der Autorinnen zu hinterfragen.

Was ist und wer leistet „Sorge und Versorgungsarbeit“ und die Arbeit insgesamt?

Zunächst sollte klar werden, was der Begriff „Sorge- und Versorgungsarbeit“ hier eigentlich umfasst und wie sich diese Arbeit zusammensetzt. Es geht um Arbeiten der Haushaltsführung und Betreuung der Familie (durchschnittlich 3:07 Stunden am Tag) sowie für Ehrenamt und freiwillige Arbeiten für andere (21 Minuten), zusammen 3 Stunden 28 Minuten am Tag. Den weit überwiegenden Teil machen dabei Arbeiten in der Küche (durchschnittlich 40 Min. am Tag), Einkaufen (34 Min.), Reinigung und Instandhaltung von Haus und Wohnung (27 Min.), Garten und Tiere (20 Min.) und Wegezeiten (17 Min., davon 12 Min. Einkaufen) aus. Erst dann kommt die Betreuung von Kindern im Haushalt (13 Min.).

Frauen leisten etwa 61 Prozent dieser unbezahlten Arbeit, täglich 4:10 Stunden, Männer 2:45 Stunden. Die Erwerbsarbeit wird zu etwa 60 Prozent von den Männern erbracht, täglich 3:19 Stunden, bei den Frauen sind es 2:19 Stunden. Sie beträgt im Gesamtdurchschnitt 2:43 Stunden am Tag, also 24 Minuten weniger als die unbezahlte Arbeit. Die Erwerbsarbeit macht danach 44 Prozent der gesamten Arbeit aus, die unbezahlte Arbeit 56 Prozent (jeweils einschließlich Wegezeiten). Der Anteil der Frauen an der Arbeit insgesamt beträgt 52 Prozent, pro Tag arbeiten sie im Durchschnitt 15 Minuten länger als die Männer.

Am größten ist der Abstand mit etwa 50 Minuten bei Rentner:innen und Pensionär:innen, wo die Hauptzuständigkeit der Frauen für den Haushalt fortwirkt und nicht mehr durch die Erwerbsarbeit kompensiert wird. Nur daraus resultiert auch die um 24 Minuten höhere durchschnittliche Gesamtarbeitsbelastung der Frauen bei den Paaren ohne Kinder im Haushalt. Bei Paaren mit Kindern leisten die Männer im Durchschnitt fast drei Stunden am Tag mehr Erwerbsarbeit und auf der anderen Seite über 2:40 Stunden weniger unbezahlte Arbeit, haben damit eine um gut 10 Minuten höhere Gesamtarbeitsbelastung. Bei den Erwerbstätigen insgesamt ist die Gesamtarbeitsbelastung recht ausgeglichen, Frauen leisten allerdings fast 1:20 Stunden mehr unbezahlte Arbeit, andererseits 1:15 Stunden weniger Erwerbsarbeit.

Diese Angaben sind Durchschnittszahlen für jeden Tag für alle Personen in Privathaushalten, die älter als zehn Jahre sind. Die Datenquelle ist die Zeitverwendungserhebung 2012/13 des Statistischen Bundesamtes, und eigene Berechnungen mit diesen Daten. Sie wird nur alle zehn Jahre durchgeführt und erfasst die gesamte Zeitverwendung der Personen auf Basis eigener detaillierter Angaben einer Stichprobe von über 5.000 Haushalten, die dann aufbereitet und hochgerechnet werden. Dies ist die deutlich ergiebigste und verlässlichste Quelle und es macht Sinn, sich in Bezug auf unbezahlte Arbeiten einheitlich auf diese zu beziehen.

Monetäre Bewertung und gesamtökonomische Bedeutung und Perspektive der Sorge- und Versorgungsarbeit

Peter und Rudolf schreiben:

„Rund 825 Milliarden Euro pro Jahr ist die unbezahlte Arbeit der Frauen in Deutschland laut der letzten Erhebung aus dem Jahr 2012 wert.“

Diese Aussage stimmt so nicht. Eine Berechnung des Statistischen Bundeamtes zur Bewertung der unbezahlten Arbeit privater Haushalte auf Basis der genannten Zeitverwendungserhebung kommt für 2013 auf eine Bewertung von 826 Milliarden Euro für die unbezahlte Arbeit insgesamt (vgl. Tabelle 4). Entsprechend des Anteils der Frauen an dieser Arbeit von 61 Prozent entfielen auf sie davon 504 Milliarden Euro, was selbstverständlich auch ein sehr hoher Betrag ist.

Die Autorinnen schreiben ferner:

„64 Prozent aller geleisteten Arbeit in Deutschland besteht aus Sorge- und Versorgungsarbeit, und den weit überwiegenden Anteil leisten Frauen. Und es ist dieser Sektor der Wirtschaft, der auch in Zukunft weiter wachsen wird.“

Wenn man wie oben alle unbezahlten Arbeiten im privaten Haushalt dazu rechnet und dazu dann bezahlte Arbeiten im Bereich Gesundheit und Sozialwesen sowie Erziehung und Unterricht addiert, können die 64 Prozent hinkommen. Sie werden bei weitem dominiert von der unbezahlten Arbeit. Diese wächst jedoch nicht, sondern ist in den letzten Jahrzehnten deutlich weniger geworden, wie der Vergleich mit den Zeitverwendungserhebungen 1992 und 2001 zeigt. Dafür spricht auch, dass seit 2013 das Erwerbsarbeitsvolumen und die Erwerbsquote der Bevölkerung weiter gestiegen sind. Dieser Rückgang der unbezahlten Arbeit ist erheblich größer als der Zuwachs der bezahlten Care-Arbeit. Beide Prozesse und ihr Gesamtresultat werden sich voraussichtlich weiter fortsetzen.

 „Die Produktion von Lebensqualität geht alle an und darf nicht weiterhin an ein Geschlecht allein delegiert werden.“

Die Zielsetzung hinter dieser Aussage ist berechtigt, aber die Überspitzung ist falsch. Zum einen, weil wie gesehen alle Arten von „Sorge- und Versorgungsarbeit“ zu einem zwar kleineren, aber dennoch erheblichen Anteil (etwa 38 Prozent) auch von Männern, also von beiden Geschlechtern geleistet werden (Diverse wurden nicht erhoben, würden aber an der Aussage auch nichts ändern). Zweitens aber und viel grundsätzlicher sollte nicht spiegelverkehrt der gleiche Fehler gemacht werden, der völlig zurecht einer einseitigen Sicht nur auf die Erwerbsarbeit oder noch enger auf die materielle Produktion als der – vermeintlich sogar einzigen – Quelle von Wertschöpfung und Wohlstand vorgeworfen wird.

Eine schlichte „Integration in das BIP“ würde den wesentlichen und grundlegenden Unterschied zwischen unbezahlter und bezahlter Arbeit verdecken und das BIP nicht aussagekräftiger machen, sondern eher verzerren

Die einzig richtige Sicht ist meines Erachtens die auf den Gesamtzusammenhang aller Arbeiten, bezahlt wie unbezahlt, auf den gesellschaftlichen Gesamtarbeitsprozess im umfassenden Sinne, als notwendige Grundlage des gesellschaftlichen Lebensprozesses insgesamt. Dieser und damit auch Lebensqualität kann nicht ohne die vielen Arbeiten erfolgen und dauerhaft fortgesetzt werden, die unbezahlt geleistet werden – aber ebenso wenig ohne die Arbeiten und ihre Produkte, die bezahlt als Erwerbsarbeit geleistet werden. Mehr noch: Zu einer realistischen Sicht gehört, dass von dem Sektor der – überwiegend kapitalistisch mit Lohnarbeit organisierten – Erwerbsarbeit in den letzten Jahrhunderten die großen Produktivitätsfortschritte und Veränderungsdynamiken ausgegangen sind und weiter ausgehen. Dies gilt im Positiven wie im Negativen, und es ändert nichts an der Notwendigkeit der unbezahlten Arbeiten.

Vorschlagen möchte ich noch, bei der Darstellung des Gender Overall Earnings Gap und ebenso des Gender Lifetime Earnings Gap angemessen und mindestens überhaupt auf die Hauptursache und Hauptbetroffenen dieser Gaps und ihrer Höhe aufmerksam zu machen. Die Hauptursache für den gravierenden Einkommensrückstand ist nämlich, dass für die Betreuung von Kindern immer noch überwiegend die Frauen ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen und ihre Arbeitszeiten reduzieren. Während die Lebenseinkommenslücke gegenüber den Männern bei Müttern 62 Prozent beträgt, ist sie bei Frauen ohne Kinder mit 13 Prozent nur einen Bruchteil so groß.

Reale Veränderungen statt Modifikationen der Statistik

Auch bei den Vorschlägen der Autorinnen zur Behebung der Problematik ist Skepsis geboten. Tiefergehende Analysen der Entwicklung der Sorge- und Versorgungsarbeiten insgesamt sind sicherlich sinnvoll und notwendig. Aber eine schlichte „Integration in das BIP“, also die Sozialprodukt- und Einkommensrechnungen, würde den wesentlichen und grundlegenden Unterschied zwischen unbezahlter und bezahlter Arbeit verdecken und das BIP nicht aussagekräftiger machen, sondern eher verzerren. Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, deren wichtigster Indikator das BIP ist, misst nicht Wohlstand und würde das auch bei Einbeziehung der unbezahlten Arbeit nicht tun, sondern die Entstehung, Verteilung und Verwendung von Einkommen und die Zusammenhänge dieser Prozesse. Unbezahlte Arbeit definiert sich aber gerade dadurch, dass sie kein Einkommen erbringt, und daher auch nicht mit Steuern und Abgaben belegt werden kann, man kann auf ihrer Grundlage auch nichts aus anderen Sektoren kaufen.

Die Einbeziehung der unbezahlten Arbeit im Haushalt wäre ein Fremdkörper in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, eine Zurechnung fiktiver Einkommen und Konstruktion fiktiver Transaktionen, die real gar nicht stattfinden und die keine monetär zu bewertenden Ansprüche hervorbringen. Weil es keine echten Preise gibt, wäre man auch weiter auf umstrittene Schätzungen und Bewertungen angewiesen, so wie es bei den schon vorliegenden Satellitenrechnungen auch der Fall ist. Die ganze Operation wäre eher irreführend und würde in der Sache nichts ändern. Sinnvoller wäre, die Zeitverwendungserhebung und die darauf beruhende Satellitenrechnung zur Haushaltsproduktion häufiger durchzuführen und weiterzuentwickeln.

Relevanter ist, wie und in welche Richtung die realen Verhältnisse und nicht nur ihr statistischer Ausdruck weiterentwickelt und verändert werden können. Neben den im Artikel angesprochenen Punkten ist dabei weiter zentral, die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und damit auch der Einkommen weiter abzubauen. Dazu müssen öffentliche Erziehung und soziale Dienstleistungen weiter ausgebaut, die Erwerbsarbeitszeiten weiter verkürzt, und die Beteiligung der Männer an der unbezahlten Arbeit weiter erhöht werden. Arbeit im eigenen Haushalt wie Erwerbsarbeit zu betrachten oder sogar bezahlen zu wollen – von wem denn auch? – würde dagegen keinen Sinn machen.

 

Zum Autor:

Ralf Krämer arbeitet beim Bundesvorstand der Gewerkschaft ver.di im Bereich Wirtschaftspolitik.