„Statistisch gesehen"

Eine Ode an das Erbsenzählen

Statistiken bilden eine wesentliche Grundlage des demokratischen Diskurses. Dies war schon vor Corona so, ist jetzt aber noch einmal wichtiger geworden. Daher müssen Statistiker lernen, so zu kommunizieren, dass die Lust an Statistiken wächst und ihre Glaubwürdigkeit dennoch erhalten bleibt. Ein Beitrag von Klemens Himpele.

Bild: Pixabay

Statistiker sind so ungefähr das langweiligste, was es gibt. Erbsenzähler eben. Und außerdem wusste ja schon Churchill, dass man keiner Statistik trauen sollte, die man nicht selbst gefälscht habe …

Gleich drei Fehler in einem Absatz: Erstens stammt das Zitat nicht von Churchill (die Herkunft ist ungeklärt), zweitens soll man Statistiken vor allem dann nicht glauben, wenn man sie sich nicht genau angeschaut hat. Und drittens sind wir nicht langweilig!

Fake News Prävention

In meinem Hauptberuf bin ich Leiter der Magistratsabteilung Wirtschaft, Arbeit und Statistik der Stadt Wien. Was mein und der Job aller anderen Statistiker mit sich bringt: Der Vermittlung von Zahlen kommt eine immer größere Bedeutung zu. Dies war schon vor Corona so, ist jetzt aber offensichtlich noch einmal wichtiger geworden.

Statistiken bilden eine wesentliche Grundlage des demokratischen Diskurses. Daher müssen wir lernen, Zahlen so zu kommunizieren, dass die Lust an Statistiken wächst und ihre Glaubwürdigkeit dennoch erhalten bleibt. In meiner Wiener Abteilung versuchen wir, durch grafische Aufbereitungen und Blogposts Daten besser erfahrbar zu machen. Auch mit Schulklassen gibt es Veranstaltungen – hier werden Statistiken aufgegriffen, die die Lebensrealitäten der Kinder betreffen (Kindergartenplätze, Spielplätze, Haustiere etc.). Immer wieder gibt es dann die Rückmeldung: Spannend, worüber es alles Zahlen gibt.

Diesen Ansatz habe ich auch in meinem im März erschienenen Buch Statistisch gesehen gewählt. Im Wesentlichen erzähle ich darin mithilfe von Daten (amüsante) Geschichten. Wer also ein statistisches Sachbuch erwartet, wird enttäuscht werden. All diejenigen, die mit Zahlen und Daten unterfütterte Anekdoten mögen, freuen sich (hoffentlich) über das Buch. Klugscheißen für Fortgeschrittene also – und das ein oder andere kann man sicher auch lernen.

Piefke und Ösis

Ich bin ein Deutscher, der in Österreich lebt. Als erstes muss also mal geklärt werden, wer eigentlich bei den olympischen Winterspielen erfolgreicher ist – Thüringen oder Tirol? Aber natürlich geht es auch um ernstere Daten. Die Demografie etwa. Seit dem EU-Beitritt Österreichs im Jahr 1995 hat Deutschland nämlich eine negative Geburtenbilanz, Österreich eine positive. Warum das so ist? Deutschland ist demografisch älter. Was bedeutet: Deutschland hat vergleichsweise mehr Menschen im Hauptsterbealter und weniger im gebärfähigen Alter. Das wiederum hat damit zu tun, dass Österreich mehr Zuwanderung ausweisen kann als Deutschland. Zusammen mit den statistischen Korrekturen führt das dazu, dass Deutschland seit 1996 ein Einwohnerwachstum von 1,5 Prozent hat – Österreich aber von 11,4 Prozent.

Auch ökonomisch ist Österreich erfolgreicher: Seit 1999 hat der kleine Nachbar ein höheres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als Deutschland, das Arbeitsstundenvolumen ist seit 1995 um 12 Prozent gestiegen, in Deutschland „nur“ um vier. Dennoch schreiben viele vom deutschen Jobwunder. Klar, die Arbeitslosigkeit ist in Deutschland geringer als in Österreich – was aber stark durch die demografische Entwicklung der Erwerbspersonen getrieben ist, die wiederum mit eben gesagtem zusammenhängt: der demografischen Entwicklung.

Auch andere Vergleiche sind spannend. So wird in Deutschland derzeit stark diskutiert, wie die öffentlichen Investitionen erhöht werden können. Seit 1995 investiert Österreich im Durchschnitt 3,0 Prozent des BIP (Bruttoinvestitionen), Deutschland lediglich 2,2 Prozent. Ob das österreichische Niveau das richtige ist, darüber lässt sich sicher streiten. Aber um den Wert von Österreich zu erreichen, wäre in Deutschland eine Erhöhung um 19,3 Milliarden Euro pro Jahr notwendig.

Alleine schon topografisch unterscheiden sich die Länder erheblich – Bayern käme mit der Zugspitze als höchste Erhebung nur auf Platz 7 der neun österreichischen Bundesländer. Was sich aber anhand der Eurobarometer-Daten (aktuellste Daten leider bereits aus dem Jahr 2015) zeigen lässt: In Graz und Wien sind die BewohnerInnen mit der Infrastruktur zufriedener als in deutschen Städte. Mit dem Zustand der Straßen und Gebäude in der Umgebung etwa waren in Deutschland 61,8 Prozent sehr zufrieden oder zufrieden – in Österreich (Wien, Graz) aber 87 Prozent.

Vielgerühmtes Österreich

Im zweiten Teil des Buches wird der Blick auf Österreich gerichtet: Die demografische Entwicklung zum Beispiel. Wussten Sie, dass dieses Jahr besonders viele Menschen den 80. Geburtstag feiern? In Österreich gab es ab 1939 nämlich einen Babyboom, der Anschluss an Hitlerdeutschland hat hier zu einem Plus bei den Geburten geführt. Erklärt wird auch der enorme Anstieg der Hochzeiten im Jahr 1987 (Abschaffung der Hochzeitprämie) und verraten, dass 5.000 Kinder, die ehelich zur Welt kommen, unehelich gezeugt wurden.

Die österreichische Nationalhymne ist ein guter Anhaltspunkt, um auch ökonomische Entwicklungen zu beschreiben. „Land der Äcker“ ist Österreich beispielsweise nur mehr bedingt, weil es natürlich auch hier einen erheblichen Strukturwandel gegeben hat – kaum etwas hat sich in den vergangenen 200 Jahren so geändert wie die Landwirtschaft. War sie früher von enormer Bedeutung für Wirtschaft und Ernährungssicherheit, so änderte sich das spätestens mit der industriellen Revolution – in Österreich also gegen Mitte des 19. Jahrhunderts. Durch den zunehmenden Einsatz der Dampfmaschine wurde die Produktivität massiv erhöht, eine Entwicklung, mit der viele Landwirte nicht mithalten konnten. Oft von der ökonomischen Not gezwungen, wanderten diese Menschen aus – etwa in die Städte (vor allem: Wien) oder in die USA.

1956 waren am 1. August in Österreich 198.830 Menschen oder 8,5 Prozent der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig. 1996 waren es noch 25.851, heute (2017) sind es nur mehr 23.605. Der Rückgang von knapp 90 Prozent ist ein enormer Strukturwandel. Diese Veränderungen sollte man sich immer wieder vor Augen führen, wenn im Zuge der Debatte um Digitalisierung ebenfalls über einen Strukturwandel gesprochen wird. Dieser bedeutet zwar erhebliche Verschiebungen, aber nicht zwangsläufig das Ende der Arbeit.

Eine weitere Zeile der Nationalhymne lautet „Land der Hämmer, zukunftsreich“. Österreich ist einer der Staaten in der EU mit einem relevanten Anteil an Wertschöpfung im produzierenden Gewerbe, zu dem auch die Industrie gehört – dennoch macht dieser 2018 nur mehr 28,5 Prozent der Bruttowertschöpfung aus. 1995 waren es noch 32,1 Prozent.

Dieser sekundäre Sektor umfasst den Bergbau, die Herstellung von Waren, die Energie- und Wasserversorgung, die Abfallentsorgung und das Bauwesen – klassisch also die Bereiche der „Hämmer“ im sehr übertragenen Sinne. Da auch die Landwirtschaft geschrumpft ist – und 2018 nur noch 1,3 Prozent zur Wertschöpfung beiträgt –, ist der tertiäre Sektor – also Dienstleistungen – mit 70,2 Prozent bei der Wertschöpfung dominant (1995: 65,5 Prozent). Der Strukturwandel in Österreich ist durchaus weit gediehen. Und: „Zukunftsreich“ heißt auch, sich weiterzuentwickeln, innovativ zu sein. Und hier ist Österreich – jedenfalls beim Input – Spitzenreiter. Mit 3,17 Prozent des BIP hat Österreich nach Schweden (3,32 Prozent) den zweithöchsten Wert bei den Ausgaben für Forschung und experimentelle Entwicklung (FuE) im Jahr 2018.  Deutschland folgt mit 3,13 Prozent übrigens auf Platz 3. Das ist wenig bekannt.

Die wirtschaftlichen Indikatoren in Österreich sind insgesamt so schlecht nicht. Und auch wenn sich bestimmte Denkschulen immer wieder über die hohe Staatsquote beschweren: Insgesamt scheint der öffentliche Sektor in Österreich eine größere Wertschätzung zu genießen als in Deutschland – Österreich hat mit 48,5 Prozent die deutlich höhere Staatsquote als Deutschland (43,9 Prozent).

Spätestens an dieser Stelle wird ein weiterer Punkt deutlich, den ich in meinem Buch betonen möchte: Statistische Vergleiche sind schwierig und missbrauchsanfällig. So müssen die Deutschen die Absenkung der gesetzlichen Rente durch private Maßnahmen kompensieren. Während die staatliche Pension zur Staatsquote zählt, fallen privat angesparte Renten nicht darunter – selbst wenn es faktisch wenig Alternativen dazu gibt. Zudem werden die Familienleistungen in Österreich als Transfers getätigt, d. h., sie werden als Steuern eingenommen und dann wieder an Familien ausbezahlt. In Deutschland hingegen ist ein wesentlicher Bestandteil der Unterstützung für Familien (oder genauer: verheiratete Paare) das Ehegattensplitting (in Österreich 1972 abgeschafft), das die Steuerschuld von Anfang an senkt, somit nicht als Ausgabe gefasst und daher nicht in die Staatsquote eingerechnet wird.

Ähnlich ist es beim Kindergeld. Sowohl beim Kindergeld als auch bei der Familienunterstützung profitieren aber bestimmte Personengruppen von der Leistung (beziehungsweise Steuerreduktion) – nur: Einmal zählt die Leistung zur Staatsquote dazu und einmal nicht. Eine geringere Staatsquote als solche ist also wenig aussagekräftig – und offenbart die Tücken der Statistik. Zumal demokratische Entscheidungen etwa für einen gut ausgebauten Sozialstaat zu respektieren sind.

Wien, Wien nur Du allein

Auch für Freunde der (Wirtschafts-)Geschichte ist etwas dabei: Anhand der demografischen Daten lässt sich wunderbar die Entstehung einer Metropole aufzeigen. Wien ist zwischen 1850 und 1910 um 1,5 Millionen EinwohnerInnen gewachsen und war damals (nach London, New York, Paris und Chicago) die fünftgrößte Stadt der Welt. Warum aber ist Wien so schnell gewachsen?

  1. Die Revolution von 1848 war in der Monarchie von überschaubarem Erfolg gekrönt, aber immerhin wurde die Personenfreizügigkeit ausgeweitet, was eine vermehrte Wanderung unterstützt hat.
  2. Die industrielle Revolution hat es verspätet auch ins KuK geschafft: Die erste Eisenbahn wurde 1837 eröffnet und die Modernisierungen der Gewerbeordnung nach den napoleonischen Kriegen spielen hier eine Rolle.
  3. Mit dem Bau der Wiener Hochquellenleitung wurde die Wasserversorgung Wiens 1873 – im Jahr der Weltausstellung und des Börsencrashes – deutlich verbessert und damit Krankheiten wie die Cholera zurückgedrängt. Insbesondere die Säuglingssterblichkeit, die 1869 noch bei 24,4 Prozent lag, sank deutlich.
  4. 1873 wird zudem das erste Bakterium entdeckt. Bis zum Antibiotika dauert es zwar noch etwas, aber es geht auch hier voran.

Kurzum: Technologischer Fortschritt, bessere Hygiene und gesellschaftliche Veränderungen haben die Lebenserwartung erhöht und die Urbanisierung vorangetrieben, was man anhand der Geburten- und Sterbedaten wunderbar aufzeigen kann – in Wien war diese Entwicklung besonders ausgeprägt (wobei man dieses vor der Pandemie geschriebene Kapitel heute mit anderen Augen liest).

Wir beenden das Buch mit den Todesursachen, Seuchen und Krankheiten. Natürlich, wir sind im letzten Abschnitt des Buches ja in Wien. Daher enden wir auch auf dem Zentralfriedhof.

 

Zum Autor:

Klemens Himpele ist Ökonom und Leiter der Magistratsabteilung 23 – Wirtschaft, Arbeit und Statistik der Stadt Wien. Auf Twitter: @KHimpele