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So weit klaffen die Prognosen zu den Folgen des Mindestlohns und die Realität auseinander

Vor der Einführung des Mindestlohns hatten sich zahlreiche ÖkonomInnen mit Prognosen übertroffen, welche enormen Beschäftigungseffekte die Lohnuntergrenze verursachen würde. Die ersten empirischen Ergebnisse zeigen jedoch: Tatsächlich hatte der Mindestlohn höchstens mikroskopische Beschäftigungseffekte und konnte vielmehr die Einkommenssituation der niedrigen Einkommensschichten verbessern.

Kaum ein Thema ist so geeignet, um manche ExpertInnen in Weltuntergangsstimmung zu bringen, wie der Mindestlohn. Gerade bei diesem Thema wird wissenschaftliche Objektivität, differenzierte Debatte und sogar empirisches Datenmaterial fallen gelassen, nur um zu bestätigen, dass die reale Welt nach der banalsten Textbuch-Ökonomie funktioniert. Würde ein Mindestlohn eingeführt, seien enorme Arbeitsplatzverluste zu erwarten. Dabei zeigt ein Blick auf die Realität des deutschen Arbeitsmarktes, dass die Aufgeregtheit eine künstliche war: Entgegen den überzogenen Prognosen gab es praktisch keine negativen Beschäftigungseffekte. Dagegen lassen sich positive Verteilungseffekte speziell im Niedriglohnsektor und zwischen den Geschlechtern beobachten.

Aufgeheizte Debatte in Deutschland

Die deutsche Debatte vor Einführung des Mindestlohns war aufgeheizt. Prominente ÖkonomInnen übertrafen sich mit Prognosen, welch enorme Beschäftigungsverluste zu erwarten wären. Besonders das teils durch die Industrie finanzierte ifo-Institut tat sich hervor. Aber auch andere Institute wie das Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) oder das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) stimmten in den Kanon ein.

Bevor die Einführung eines Mindestlohns politisch konkretisiert wurde, gingen die meisten ÖkonomInnen von einem Startniveau von lediglich 7,50 Euro pro Stunde aus. Gemäß der ab 2007 veröffentlichten Studien würde eine solche gesetzliche Lohnuntergrenze bis zu 1,22 Millionen Jobs kosten – so das Ergebnis ihrer modellbasierten Simulationen.

Interessanterweise prognostizierten spätere Studien (zum Teil derselben Forschungsinstitute), die dann von einer Untergrenze von 8,50 Euro ausgingen, sogar niedrigere negative Beschäftigungseffekte.

Kühle Fakten

Etwa ein Jahr nachdem am 1. Januar 2015 in Deutschland ein – aus westeuropäischer Perspektive relativ niedriger – gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde eingeführt wurde, lassen sich die tatsächlichen Auswirkungen auf die Beschäftigung beobachten. Die ersten empirischen Auswertungen zeigen: Etwas weniger Aufgeregtheit hätte der Debatte gut getan. Die meisten Modelle lagen nämlich weit daneben. Die Modellprognosen waren weit höher als die Beschäftigungseffekte, die in Wirklichkeit eintraten. Die folgende Abbildung zeigt, wie weit Prognosen und Realität auseinanderklafften.

Quellenangaben für Prognosen mit einer Mindestlohn-Annahme von 7,50 Euro: Prognose 1: Müller/Steiner 2011, 2: Müller/Steiner 2008, 3: Müller 2009, 4: Ragnitz/Thum 2007, 5: Knabe/Schöb 2008, 6: Bauer ea. 2008, 7: Ragnitz/Thum 2008, 8: Bachmann ea. 2008. Prognosen für Mindestlohn-Höhe von 8,50 Euro: Prognose 1: Knabe ea. 2014, Prognose 2: Arni ea. 2014, Prognose 3: Henzel/Engelhardt 2014, Prognose 4: Knabe ea. 2014. Ex-post Evaluierungen: Tatsächlich 1: Bossler/Gerner 2016, Tatsächlich 2: Garloff 2016. Ausführliche Quellenhinweise: Studien zum Mindestlohn in Deutschland – Prognosen und Realität

Dabei ist nicht einmal klar, ob diese Beschäftigungseffekte überhaupt eintraten. Entgegen der Prognosen war eine Umwandlung prekärer Minijobs in sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit zu verzeichnen. Darüber hinaus verzeichneten die von Niedriglöhnen besonders stark betroffenen Beschäftigtengruppen (wie Frauen oder gering Qualifizierte) überdurchschnittliche Einkommenssteigerungen.

Mindestlohn sichert ab

Und Deutschland ist kein Einzelfall. Die faktenbasierte Forschung zu Mindestlöhnen zeigt, dass internationale Studien im besten Fall geringe Beschäftigungseffekte nachweisen. Gleichzeitig verbessern sie die Situation der niedrigsten Einkommensgruppen. Weil Frauen weniger verdienen als Männer, wirkt sich für sie der Mindestlohn auch stärker aus: In Deutschland profitierten von der Einführung doppelt so viele Frauen wie Männer. Somit ist der Mindestlohn zwar kein allmächtiges, aber doch ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Erwerbsarmut und Ungleichheit.

 

Zu den AutorInnen:

Miriam Rehm ist Referentin für Makroökonomie und Verteilung in der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der AK Wien und lehrt an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Simon Theurl ist Referent in der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der AK Wien. Zudem ist er Vorstandsmitglied des Beirats für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (BEIGEWUM) und Lektor an der Fachhochschule des BFI Wien.

Hinweis:

Dieser Beitrag wurde zuerst im sehr lesenswerten blog.arbeit-wirtschaft.at veröffentlicht.