Fremde Federn

Politik als Beruf, EZB-Urteil, Kommunalfinanzen

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Was das Karlsruher Urteil für Europa bedeutet, warum Unionsabgeordnete die eigene Kanzlerin in der Klimapolitik ausbremsen wollen und wie eine egalitäre Medikamentenversorgung aussehen könnte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wie das Virus die weltweiten Lieferketten von Nahrungsmitteln beeinflusst

piqer:
Katharina Brunner

In Deutschland sind die Folgen des Corona-Virus auf die Landwirtschaft vor allem an einer Pflanze sichtbar geworden: dem Nationalgemüse Spargel. Doch diese Binnensicht zeigt nur einen kleinen Ausschnitt der globalen Versorgungskette. Dieser Startpunkt der tatsächlichen Produktion war auch schon vor den letzten Pandemie-Wochen unter Druck. Wer erinnert sich zum Beispiel an die Bilder aus Kenia, wo Heuschrecken Felder vernichten?

Um sicherzustellen, genügend Lebensmittel im Land zu haben, haben Nationen wie Russland oder Vietnam verboten, bestimmte Lebensmittel ins Ausland zu verkaufen. Doch die Maßnahmen, um die Folgen des Virus einzudämmen, betreffen auch massiv den Transport mit Containerschiffen, und wir als Konsumierende verschieben unsere Präferenzen. Also, sofern wir reich genug sind, als dass uns die wahrscheinlichen Preissteigerungen eher egal sein können…

Die South China Morning Post erklärt das Thema mit seinen vielfältigen Aspekten wie so häufig mit sehr guten Grafiken und Schaubildern.

Krise vor Ort

piqer:
Frank Lübberding

Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Lage der Kommunen in der Krise. Die Aussagen von Gerd Landsberg in der Bild-Zeitung über die dramatischen Steuerausfälle gehen angesichts der täglich neuen Hiobsbotschaften fast unter. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes spricht von bis zu 60 Milliarden Euro. Aber was bedeutet das konkret?

Das erläuterte mir Thomas Feser, Oberbürgermeister von Bingen am Rhein. Es ist eine Stadt mit etwas mehr als 25.000 Einwohnern in Rheinland-Pfalz. Sie habe vor der Krise noch mit Gewerbesteuereinnahmen zwischen 17 und 19 Millionen Euro geplant. Davon fehlen nach dem Lockdown allein schon zwei Millionen des größten Gewerbesteuerzahlers. Die anderen wegbrechenden Einnahmen dieser unter anderem vom Tourismus lebenden Stadt sind dabei noch nicht berücksichtigt. Das gilt in gleicher Weise für die zu erwartenden Einnahmeausfälle aus der Einkommensteuer als eine tragende Säule kommunaler Finanzen.

Hier wird deutlich, was in den abstrakten ökonomischen Debatten bisweilen fehlt: Nämlich die psychologischen Veränderungen in der Wahrnehmung der Krise einzukalkulieren, die eine ungeheure Dynamik angenommen haben. Beim Beginn des Lockdowns gab es hohe Zustimmungswerte, weil ihn die meisten Menschen als eine Art Auszeit vom Alltag begriffen hatten. Das machen wir jetzt, anschließend geht es weiter.

Diese Erwartung ist durch einen zunehmenden Pessimismus über die Zukunftsperspektiven ersetzt worden. Das zeigte sich auch in der Einschätzung des Oberbürgermeisters: Er habe nicht mit diesen ökonomischen Folgen gerechnet. Zugleich hält Feser die Entscheidungen aus dem März weiterhin für richtig: Gesundheit ginge vor. Eine schnelle Rückkehr zu den Verhältnissen vor der Pandemie erwartet er nicht, trotz der mittlerweile beschlossenen Lockerungen. Dagegen spreche die spürbare Verunsicherung vieler Bürger bei der Einschätzung der gegenwärtigen Lage. Die Kommunalpolitik hatte schon immer ein gutes Gespür für die Stimmung vor Ort. Dort konkretisiert sich, was die Bundespolitik abstrakt diskutiert. In dieser Krise wird es darum gehen, die psychologische Abwärtsdynamik in den Griff zu bekommen, die das Land zu lähmen droht. Die Kommunalpolitiker sind die richtigen Ansprechpartner, um das zu verhindern.

Wie bringt man Pharmafirmen dazu, Medikamente kostengünstig bereitzustellen?

piqer:
Michaela Haas

In Amerika kursiert derzeit ein Scherz, der nicht lustig ist: Wer einen Covid-19-Test haben will, muss einfach einem Reichen ins Gesicht husten.

Schon jetzt zeigt sich bei der Covid-19-Pandemie, dass wir in einer Zweiklassen-Gesellschaft leben: In vielen Ländern, etwa in Amerika, entscheiden Geld und sozialer Status darüber, wer einen Test und eine schnelle Behandlung bekommt.

Wie lassen sich Medikamente und Impfstoffe gegen Covid-19 weltweit schnell verfügbar machen? Wie bekommt man Firmen dazu, dass sie an den wichtigsten Mitteln forschen, nicht an den profitabelsten?

Dieses Interview im aktuellen SZ-Magazin mit einem Aktivisten-Ehepaar aus den USA ist auch deshalb spannend, weil die beiden in der Vergangenheit erfolgreich Druck auf Pharmakonzerne machten: Jamie Love zwang Pharmakonzerne, patent-geschützte Mittel gegen HIV freizugeben. Und Manon Ress kämpft dafür, Krebsmedikamente günstiger zu machen. Sie betreiben zusammen die Organisation Knowledge Ecology International, die sich für gerechtere Regeln bei geistigem Eigentum einsetzt.

Die beiden haben Erfahrung aus einer anderen Epidemie: der Aids-Epidemie in den neunziger Jahren. Millionen von Menschen konnten sich die antiviralen Medikamente nicht leisten, vor allem in Entwicklungsländern.

Dass sich Love und Ress so für diese Sache einsetzen, hat auch persönliche Gründe: Manon Ress hat eine aggressive Form von Brustkrebs, und ihre Medikamente kosten eine halbe Million Dollar im Jahr.

Es ist verrückt. Dabei kosten diese Medikamente in der Herstellung nur ein paar Dollar pro Woche.

Für die Corona-Krise haben die beiden einen konkreten Plan vorgelegt:

Love: Oft reden wir von Medikamenten und Impfstoffen, die mit öffentlichen Mitteln finanziert wurden. Wir haben mit der Regierung von Costa Rica an einem Plan gearbeitet, den sie der WHO vorgeschlagen hat und den inzwischen auch die EU unterstützt: Jede Institution, die Forschung finanziert, soll in ihre Verträge für Forschung zu Corona eine Option eintragen, dass die Rechte an allen Ergebnissen in einen weltweiten Pool unter dem Dach der WHO einfließen. Firmen, die Patente halten, würden aufgefordert, dem Pool freiwillige Lizenzen zu erteilen.

Ress: Mit dem Pool stünden die effizientesten Generika-Hersteller der Welt in Konkurrenz: Alle diese Firmen wollen einen Teil des enormen Volumens liefern, das jetzt nachgefragt wird. Und um sich Marktanteile zu sichern, senken sie die Preise – das muss ein Monopolist nie tun, weil niemand gegen ihn antreten darf. So würden wir uns einem günstigen Generika-Preis annähern.

Auch für schon existierende Medikamente, die sich im Kampf gegen Corona durchsetzen könnten, haben die beiden Vorschläge, wie sich die Medikamente gerecht verteilen lassen könnten.

Diese Firmen würden entschädigt. Aber eben nicht nach dem Motto: Ihr Haus brennt ab, wie viel können Sie mir für einen Wasserschlauch zahlen? Niemand hat ein gottgegebenes Recht, sich an einer Pandemie zu bereichern. Sie war auch nicht Teil des Geschäftsplans.

Wie Unionsabgeordnete gegen eine ehrgeizigere Klimapolitik arbeiten

piqer:
Alexandra Endres

Überraschend ist es nicht. Ermüdend schon: Die Bundeskanzlerin unternimmt einen vorsichtigen Vorstoß in Richtung mehr Klimaschutz – und wird von ihren eigenen Abgeordneten ausgebremst.

Die Süddeutsche Zeitung zitiert Angela Merkel so:

(Sie) begrüße den Vorschlag des Zwischenziels, in der EU „bis 2030 die Emissionen auf 50 bis 55 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren“. So deutlich hatte sich Merkel noch nie zu höheren Klimazielen bekannt. Nur hat sie die Rechnung womöglich ohne die eigenen Abgeordneten gemacht.

Denn die bremsen offenbar. In einem Positionspapier, dessen Entwurf der Süddeutschen vorliegt, schreibt die Unionsfraktion im Bundestag:

Ein neuer Zielwert von 50 bis 55 Prozent Treibhausgas-Minderung aber … sei „eine weit reichende Zielverschärfung“. Dem stimme man nur zu, wenn zugleich Lasten innerhalb der EU neu verteilt würden. Andernfalls drohe „eine massive Anhebung des deutschen Klimaziels für 2030“. Auch müssten „Emissionsminderungen in Drittstaaten“ eingerechnet werden. Deutschland könnte seine Verpflichtungen teilweise auf Minderungen im Ausland abwälzen.

Es sind die „ersten Vorboten einer neuen Offset-Diskussion“, wie Felix Schenuit von der Uni Hamburg auf Twitter feststellt – einer Debatte ums Freikaufen also, statt darüber, wie man selbst am besten investieren könnte, um einen besseren Klimaschutz im eigenen Land zu erreichen.

Die SZ schreibt weiter:

Die Unionsfraktion stellt indirekt sogar Klimaauflagen infrage. Durch die Corona-Krise habe sich die wirtschaftliche Situation für Beschäftigte und Unternehmen in Deutschland und Europa deutlich geändert. … Konkret will die Union alle Auflagen beiseiteräumen, die vermeintlich die wirtschaftliche Erholung gefährden könnten. Im jüngsten Koalitionsausschuss hatte es deshalb zwischen Union und SPD gekracht. … Auch eine Anhebung der CO₂-Standards für Autos lehnt die Fraktion ab.

Es wird also wieder das alte Argument aus der Schublade geholt, dass Klimaschutz die Wirtschaft behindere. Dabei gibt es längst Vorschläge, die darlegen, wie ein sinnvolles, klimafreundliches Nach-Corona-Konjunkturpaket aussehen könnte:

  • Hier von Patrick Graichen, Direktor der Agora Energiewende,
  • hier von Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung
  • und hier gibt es noch einen Text über eine Studie der Uni Oxford, die zu dem Ergebnis kommt, dass Konjunkturpakete, die klimafreundlich ausgerichtet sind, sogar besser für die Wirtschaft seien als andere.

Disclaimer: Zwei der verlinkten Texte sind von mir, es ist eine willkürliche, sicher ziemlich unvollständige Auswahl. Aber es gibt massig Veröffentlichungen zu dem Thema. Eigentlich müssten auch Unionsabgeordnete längst wissen, dass die Wirtschaft auch mit Klimaschutz angekurbelt werden kann.

Das Handelsblatt zitiert hier allerdings Experten, die einer Zielerhöhung ebenfalls skeptisch gegenüberstehen. Beispielsweise Marc Oliver Bettzüge, Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Uni Köln (EWI), der sagt:

Es würde sich somit auf EU-Ebene grob um eine Verdopplung des Ambitionsniveaus handeln – sowohl im Vergleich zur Vergangenheit als auch im Vergleich zum aktuellen Ziel von 40 Prozent. „Schon bei den aktuellen Zielen ist unklar, wie genau sie umgesetzt und finanziert werden sollen“, so Bettzüge. „Für verschärfte Ziele gibt es erst recht noch keine umfassende Grundlage für eine möglichen Umsetzung.“

Bettzüge ist ebenfalls dafür, über die Lastenverteilung in der EU zu sprechen, sollten die Klimaziele verschärft werden.

Auch Graham Weale von der Ruhr-Uni Bochum warnt vor illusorischen Zielen.

Dass Ziele nur etwas taugen, solange die Politik auch wirklich versucht, sie zu erreichen, und dass es da noch sehr hapert, bemängeln freilich auch Klimaschützer.

Und viele EU-Parlamentarier fordern gar ein Klimaziel von 65%.

Deutsche Richter*innen reißen Brandmauer gegen Autoritarismus ein

piqer:Ulrich Krökel

 

Wie so viele Themen der vergangenen Wochen, so ist auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den EZB-Anleihekäufen inmitten all der Corona-Nachrichten zwar nicht untergegangen. Aber es ist in seiner vollen Tragweite doch nicht ausreichend gewürdigt worden. Denn tatsächlich geht es in dem Fall weniger um die Streitsache selbst, also das Vorgehen der EZB bei einem sehr spezifischen Anleihekaufprogramm. Vielmehr haben die Karlsruher Richter*innen eine Vorlage geliefert, die zu einem (weiteren) Sprengsatz der EU werden könnte.

Warum das so ist, dröseln drei absolute Fachleute im jüngsten DLF-Politikpodcast auf, den ich hier auch ganz grundsätzlich empfehlen möchte (abrufbar auch in der DLF-Audiothek). Die beiden ehemaligen „Karlsruhe-Korris“ Gudula Geuther und Stephan Detjen sowie als Dritte im Bunde die Wirtschaftsfachfrau Brigitte Scholtes erklären eindrücklich, dass nach dem Urteil weniger die EZB und die Bundesbank oder die Bundesregierung ein Problem miteinander bekommen werden. Die eigentliche Bruchlinie verläuft vielmehr zwischen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg und eben dem BVerfG. Gerade Hörer*innen, die selbst nichts oder wenig mit Jura am Hut haben, bekommen in dem Podcast harte Kost bestens verdaulich serviert.

Die zentrale Frage lautet: Schlägt Europarecht deutsches Recht, wie dies bislang als grundsätzlich akzeptiert galt? Oder ist es eben doch umgekehrt: Haben in Europa die Nationalstaaten das letzte Wort bzw. die nationalen Gerichte? Detjen zeigt sich überzeugt, dass die Karlsruher Richter*innen nationalistischen Regierungen etwa in Polen und Ungarn „Textbausteine geliefert haben“, mit denen sie sich künftig über europäisches Recht hinwegsetzen können. Tatsächlich hat das BVerfG dem EuGH vorgeworfen, in Sachen EZB „objektiv willkürlich“ geurteilt zu haben.

Deshalb würde ich persönlich, aus meiner Polenkenntnis heraus, Detjen auch  klar zustimmen. Meine Prognose lautet: Das regierungstreue Verfassungsgericht in Warschau wird demnächst die jüngsten EuGH-Urteile, die große Teile der polnischen Justizgesetzgebung für europarechtswidrig erklärt haben, als „objektiv willkürlich“ zurückweisen. Und das heißt: Eine entscheidende Brandmauer gegen Illiberalismus und Autoritarismus ist gefallen – eingerissen vom Bundesverfassungsgericht.

Mit der Corona-Krise aus alten Arbeitsweisen ausbrechen – Unterstützung durch Arbeitgeber gefragt

piqer:
Ole Wintermann

Wird es nach der coronabedingten längeren Phase des Homeoffice vieler Millionen Beschäftigter eine komplette Rückkehr zu der gewohnten Büro-Arbeit (9-to-5) inklusive des täglichen nervigen Pendelns geben oder wird sich die Art des Arbeitens in Zukunft nachhaltig ändern?

Noch im Jahr 2017 haben nur 3 % der in den USA Vollzeit-Erwerbstätigen überwiegend von Zuhause aus gearbeitet. Die Auswertung ihrer Nutzerstatistiken durch die VPN-Anbieter NordVPN und Surfshark ergeben nun für die Situation der Homeoffice-Arbeitenden ein spannendes Bild der Veränderung der Arbeitsgewohnheiten. Die an das Zuhause gebundenen Erwerbstätigen loggen sich nun im Schnitt drei Stunden mehr ein als vor dem Lockdown. In Frankreich, Spanien und UK haben sich die täglichen Arbeitszeiten um zwei Stunden ausgeweitet. Für Italien ist keine Veränderung messbar. Ohne Pendeln sind die täglichen Startzeiten eine Stunde nach vorn gerutscht. Zudem ist eine neue Aktivität für die Zeit von Mitternacht bis 3 Uhr morgens sichtbar geworden, die es vor Corona nicht gegeben hatte.

Die dann im Beitrag geschilderten Einzelfälle deuten die Ursachen hierfür an. So fühlen sich viele Beschäftigte bemüßigt zu beweisen, dass sie auch arbeiten, wenn sie nicht vom Arbeitgeber beobachtet werden. Auch die räumliche Aufhebung der Trennung von Arbeit und Leben im Zusammenspiel mit weniger Ablenkungsmöglichkeiten im Alltag lässt die Hürde zur Aufnahme einer Arbeitstätigkeit in dem 24-Stunden-Zeitraum kleiner werden; schnell noch mal die Mails checken. Gleichzeitig fällt das Pendeln als Ort und Zeit des Abschaltens weg.

Die Kehrseite dieses Anstiegs der Arbeitszeiten ist der inzwischen vielfach gemessene Anstieg der Produktivität. Dies liegt an weniger Verschwendung von Zeiten in unnötigen Sitzungen, Kaffeeküchen-Gesprächen, internen Town-Hall-Meetings oder Weiterbildungen.

Kluge Arbeitgeber werden in Post-Corona-Zeiten versuchen, ein Gleichgewicht zwischen dem steigenden Risiko des Burnouts auf der einen und dem Anstieg der Produktivität auf der anderen Seite zu finden; die Beschäftigten bei der Work-Life-Balance besser zu unterstützen, besser mit den Beschäftigten zu kommunizieren und sie bei Problemen in den Arbeitsabläufen zu unterstützen, sollten Mittel der Wahl sein. Vorbildlich sind daher die Initiativen von Microsoft Corp. und Goldman Sachs Group, die den Eltern von Kindern zusätzliche Wochen für die Kinderbetreuung zugestanden haben.

Fazit: In der Nach-Corona-Zeit sollten Arbeitgeber im eigenen Interesse nicht komplett in veraltete Arbeitsweisen zurückfallen. Die Beschäftigten werden ihnen die erhöhte Diversität der Arbeitsweisen mit mehr Produktivität danken.

Politik als Beruf: Vier Porträts über einen (nicht nur zur Zeit) sehr harten Job

piqer:
Florian Meyer-Hawranek

Wassertrinken im Plenarsaal des deutschen Bundestags: ist verboten. Und zwar auch und ausdrücklich für diejenigen, die dort manchmal stundenlang am Stück arbeiten: die Abgeordneten. Als an einem Sitzungstag zwei Politiker einen Schwächeanfall erleiden, zeichnen die Saalmikrofone folgendes Gespräch mit:

„Was ist heute los?“

„Manchmal gibt’s so Tage.“

„Es ist langsam zu viel“.

„Wir haben auch Grundgesetzänderungen nachts um eins schon beschlossen. Und das finde ich indiskutabel.“

Nach dem Tag mit den beiden Schwächeanfällen und der Kritik mehrerer Abgeordneter gibt sich der Bundestag einige neue Regeln: Die Dauer der Plenarsitzungen, oft bis spät in die Nacht, wird zeitlich begrenzt. Auch werden Defibrillator und Notfallkasten installiert. Wassertrinken im Plenarsaal bleibt aber verboten.

Das ist ein kleiner Ausschnitt aus einem Leben als Abgeordnete*r, den Thilo Schmidt am Anfang seines 30-minütigen Audiostückes erzählt. Aber: Es ist ein kleiner Ausschnitt, der Eindruck macht. Genauso wie die vielen weiteren Eindrücke und Einblicke, in den persönlichen Umgang mit Druck, Dauerbeobachtung, dem Willen etwas zu verändern und der Gefahr damit zu scheitern. Alles Stressfaktoren, denen Politiker*innen jeden Tag ausgesetzt sind.

„Politik als Beruf“ ist ein überraschendes, weil sehr persönliches, lehrreiches und  äußerst aktuelles Stück – mit vier gut gewählten Protagonist*innen, die Politik zum Beruf gemacht haben: Anke Domscheit-Berg, Abgeordnete der Linken, Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP), der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und der Bürgermeister von Altenas Andreas Hollstein (CDU), der Opfer eines Messerangriffs wurde.

Leidenschaft, Verantwortung, Augenmaß – so zitiert der Autor Max Weber aus dessen Beschreibung von Politik als Beruf aus dem Jahr 1919. Und wenn man den vier Politiker*innen so zuhört, kann man sagen, dass viele der Beschreibungen auch heute noch zutreffen. Wer würde gern mit ihnen tauschen, wenn er oder sie hört, dass Wolfgang Kubicki gesagt haben soll, dass er „seit sieben Jahren keinen Urlaub hatte und prima damit klarkommt“? Oder der Bürgermeister Andreas Hollstein am Hals verletzt wird („Hollstein selbst macht für die Tat auch Hass, Hetze und Drohungen im Netz verantwortlich. Die Stadt Altena hatte freiwillig mehr Flüchtlinge aufgenommen als der Verteilungsschlüssel vorsah.“) und er dennoch in der Politik weitermachen will.

Thilo Schmidt erzählt aber nicht nur Schockgeschichten aus der Politik, sondern lässt den Interviewten auch Raum, zu erklären, warum sie all das zum Teil gerne auf sich nehmen. Auch und gerade in der aktuellen Krise. Lohnende 30-Podcastminuten mit nur einem Manko: Eine halbe Stunde ist viel zu kurz – oder braucht zumindest bald eine Fortsetzung.

Demokratie oder Autoritarismus: Wegweisende Wochen in Polen

piqer:
Ulrich Krökel

In den kommenden Wochen könnte Polen einmal mehr eine fundamentale politische Wende bevorstehen. Der Streit um die Präsidentenwahl in Corona-Zeiten hat die nationalkonservative PiS-Regierung an den Rand des Zusammenbruchs geführt. Zerfällt das bislang so einheitlich auftretende Rechtsbündnis, wäre im besten Fall ein demokratischer Wechsel denkbar. Das gegenteilige Szenario wäre eine putschartige Zementierung der Macht der PiS mit ihrem autoritären Parteichef Jarosław Kaczyński. Setzt er die Wahl seines Kandidaten, des Amtsinhabers Andrzej Duda, ohne verfassungsrechtlich einwandfreie Grundlage durch, wäre dies der endgültige Bruch des demokratischen Konsenses. Denn immerhin galten Wahlen in Polen bislang noch als frei, geheim, gleich, allgemein und weitgehend fair.

Wie weit sich die PiS allerdings bereits jetzt von den Grundprinzipien der Demokratie verabschiedet hat, insbesondere von der Gewaltenteilung, schildert Deutschlandfunk-Korrespondent Florian Kellermann in einer kleinen Porträtreihe in der Sendung Gesichter Europas, die ich grundsätzlich empfehlen möchte.

Kellermann zeichnet anhand seiner Protagonisten den Streit um die sogenannten Justizreformen der PiS nach, der das Land seit dem doppelten Wahlsieg der Partei 2015 in Atem hält und auch zu einem Rechtsstaatsverfahren der EU gegen Polen geführt hat. Er hat unabhängige Richter getroffen, die kaltgestellt wurden oder diffamiert werden, aber auch Kritiker des „alten“ Justizsystems, das durchaus seine Schwächen hatte:

Die Warschauer Stadtoberen, die [der Anti-Korruptionsaktivist] Jan Spiewak zur Rechenschaft ziehen will, gehören seit inzwischen 14 Jahren zum Kreis der rechtsliberalen „Bürgerplattform“, kurz PO. Es ist die Partei des ehemaligen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk, im Sejm ist sie die stärkste Oppositionspartei. Die Bürgermeisterin, unter der es die meisten Unregelmäßigkeiten bei der Reprivatisierung gab, hat heute einen Job in Brüssel. Spiewak: „Der Mann von Hanna Gronkiewicz-Waltz hat ein Wohnhaus geerbt, das zuvor von sogenannten Schmalzowniki gestohlen worden war. Also von Polen, die im Zweiten Weltkrieg Juden an die deutschen Besatzer verraten hatten. In einem normalen Land wäre ihre Karriere doch sofort beendet, wenn so etwas herauskommt. Aber Gronkiewicz-Waltz ist heute Beraterin der EU-Kommission in Klimafragen. Das heißt doch, dass man sich alles erlauben kann.“

Kellermann gelingt am Beispiel der Justizreform eine hervorragende Gesamtschau der Verhältnisse im Land, die zeigt, dass keineswegs alles Gold war, was im Rückblick auf die Vor-PiS-Zeit zu glänzen scheint. Zugleich und vor allem wird aber sichtbar, dass die PiS die Missstände zum Anlass genommen hat, um einen Staatsumbau einzuleiten, statt die Dinge „einfach nur besser“ zu machen. Noch, so scheint es, gibt es für die polnische Gesellschaft als Ganzes die Chance, aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre zu lernen und wieder ein demokratisches, vielleicht sogar deutlich verbessertes Staatswesen aufzubauen. Und genau darum wird es in den kommenden Wochen gehen.

Wie hältst Du es mit der Vergangenheit? Susan Neiman zum argen Weg der Erkenntnis

piqer:
Achim Engelberg

Aus aktuellem Anlass gab es in den letzten Tagen etliche Beiträge über die dunklen Kapitel der deutschen Geschichte. Mit fremdem Blick fügt die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman im Interview anlässlich ihres Buchs VON DEN DEUTSCHEN LERNEN nicht nur eine neue Facette hinzu.

Sie zeigt Leistungen, Versäumnisse und was noch zu machen ist im Vergleich zu den dunklen Kapiteln der Geschichte ihres Herkunftslandes. Eine berufenere Autorin gibt es wohl kaum, denn sie lebt seit 1982 mit Unterbrechungen in Berlin und ist seit 2000 Direktorin des Einstein Forums in Potsdam.

Sie fordert eine umfassende Auseinandersetzung mit den dunklen Kapitel der USA und dabei können diese auch von den von ihnen mit befreiten Deutschen lernen. In den Staaten aufgewachsen, war sie selbst von den Ergebnissen ihrer Untersuchungen überrascht, etwa

welch große Rolle es immer noch spielt, dass die Sklaverei mit dem Ende des Bürgerkriegs de facto nicht abgeschafft wurde. Sklavenartige Beschäftigungsformen wie die Schuldknechtschaft oder die Verpachtung Strafgefangener gab es vielmehr bis tief ins 20. Jahrhundert. Der Rassismus in den USA ist daher viel tiefer und viel weiter gegangen als es von außen erscheint. Die frühe Vergangenheitsaufarbeitung, die in Deutschland erst in späten Sechzigerjahren in den Kinderschuhen war, markiert einen Punkt, an dem wir in den USA jetzt gerade erst sind. Und das auch nur, weil uns Trump die Augen geöffnet hat. Das ist die einzige gute Folge seiner Präsidentschaft.

(Wer diese Tiefenschichten besser verstehen will, schaue auf diese Doku-Serie, die die geschätzte Kollegin Michaela Maria Müller empfiehlt.)

Im Gegensatz zu den Amerikanern, so Susan Neiman, sehen viele Deutsche ihre Schuld und diese wird erinnert. Allerdings war es trotz dem Zwang nach dem verlorenen Krieg ein arger Weg der Erkenntnis. Sie unterstützt ausdrücklich die These von der Zweiten Schuld.

Ralph Giardano löste damit eine Debatte aus, die Gerhard Zwerenz im November 1987 im SPIEGEL so unterstützte:

Vielleicht gelingt es ihm, sich Gehör zu verschaffen, eben und gerade weil er ein jüdischer Deutscher ist, ein dem drohenden Holocaust entronnener einzelner, der also weiß, wovon er spricht, wenn er vom Leid spricht, „vom großen Frieden mit den NS-Tätern nach 1945“, vom „Geburtsfehler der Bundesrepublik Deutschland“, von der „zweiten Schuld“ nach der ersten unter Hitler, denn auf die Untaten folgten deren Leugnung, das Schweigen und, neuerdings, die triumphale Wiederauferstehung per Beschönigung, Bagatellisierung und Uminterpretation.

Es gruselt einem beim Lesen vom Stand der westdeutschen Auseinandersetzungen Ende der 1980er Jahre.

Mittlerweile gelang es dem neu vereinten Deutschland trotz Rückschlägen in der Mehrheit so gut, dass andere wie die USA davon lernen könnten. Aber dabei belässt es Susan Neiman nicht, sondern sticht in die eiternde Blase der neuen deutschen Vergangenheitsbewältigung:

Westdeutschland ist bis heute nicht in der Lage, den Antifaschismus in der DDR sachlich einzuordnen. Da ist immer der hämische Ausdruck „verordneter Antifaschismus“ zu hören, wobei man eigentlich fragen müsste: „Hey, ist das nicht genau das, was Ihr Euch von der Adenauer-Regierung gewünscht hättet?“ Bestand das Problem in der Bundesrepublik nicht genau darin, dass der Antifaschismus von der Regierung nicht verordnet wurde? Natürlich wird alles, was die Regierung verfügt, irgendwann einmal formelhaft und verliert an Authentizität. Der Antifaschismus wurde auch instrumentalisiert, gar missbraucht. Aber es war zunächst genau richtig, dass die DDR den Antifaschismus verordnet hat.

Außerdem erläutert sie, im Buch logischerweise ausführlicher, dass jenseits der unsäglichen Propaganda in der DDR die Nazi-Diktatur oft vielschichtiger dargestellt worden ist.

Zuletzt will der Interviewer Paul Katzenberger wissen, welche Eigenschaften sie als jüdische Amerikanerin an vielen Deutschen bemerkt, die der Diktatur Vorschub geleistet haben könnten:

Mich stört immer dieses hierarchische Denken. Das macht mich manchmal verrückt. Wir denken immer, dass die NSDAP vom Pöbel unterstützt wurden, dabei stellten die Akademiker prozentual den höchsten Anteil der Mitgliedschaft. Ich bin immer erstaunt, wie viel übertriebenen Respekt die Menschen hier vor einem Doktor, Professor oder Staatssekretär haben. Für eine Amerikanerin wie mich ist das ziemlich unverständlich.

Hier allerdings war die DDR nicht besser, füge ich hinzu und empfehle diese beiden augenöffnenden Texte.