Fremde Federn

George Soros, EU-Asylpolitik, Euro-Historie

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Was Katar gegen die Blockade unternommen hat, wie sich vollständig offene Grenzen auf den Arbeitsmarkt auswirken könnten und warum der Euro eigentlich ein anti-neoliberales Projekt ist.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Euro: Nicht die Währung ist das Problem, sondern die von der Politik gesetzten Rahmenbedingungen

piqer:
Jürgen Klute

Es sei gleich zu Beginn gesagt: Dieser Artikel von Stephan Schulmeister aus den Blättern für deutsche und internationale Politik ist ein long read, für den man sich etwas Zeit nehmen muss.

Schulmeister ist ein scharfer Kritiker des Finanzkapitalismus. Sinn und Zweck des Finanzsektors liegt für Schulmeister darin, der Realwirtschaft die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen, um Bürgerinnen und Bürger mit den für ein würdiges Leben nötigen Dienstleistungen und Gütern zu versorgen.

Aus dieser Perspektive setzt Stephan Schulmeister sich mit der von rechten Parteien, aber auch von manchen linken Kritikern vorgetragenen Forderung auseinander, aus dem Euro auszusteigen. Deren Begründung ist, der Euro sei ein neoliberales Konstrukt und damit sowohl für die EU-Krise als auch für den Sozialabbau seit Beginn der Krise verantwortlich.

Schulmeister widerspricht dieser These. Nicht die gemeinsame Währung sei ursächlich für die Krise und den Sozialabbau, sondern der von der Politik gesetzte Rahmen für den Euro. Der Euro selbst sei, so Schulmeister weiter, ein anti-neoliberales Projekt.

Schulmeister leitet seine These aus der europäischen Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit und den währungspolitischen Turbulenzen ab, die neben den politischen Gründen maßgeblich für die Einführung der Währungsunion geführt waren.

Deutlich wird in dieser analytischen Rückschau allerdings auch, dass die Bundesrepublik schon in der Zeit vor der Euroeinführung eine strikt nationalistische Währungspolitik zulasten anderer europäischer Staaten betrieben und sich deshalb gegen eine gemeinsame Währung gesträubt hat, die ohne den Mauerfall gegen die Interessen der BRD vielleicht nicht durchgesetzt worden wäre.

Nicht zuletzt dieser Blick in die europäische Wirtschafts- und Währungsgeschichte, der zeigt, dass die Welt vor dem Euro keineswegs eine heile war, sondern dass gerade die damaligen Probleme zur Entwicklung einer gemeinsamen Währung führten, macht die Lektüre dieses Beitrags lohnenswert.

Gescheiterte Blockade – so hat Katar sich gewehrt

piqer:
Lars Hauch

Was ist eigentlich aus Katar geworden? Vor rund einem Jahr verhängten Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und weitere Länder eine Blockade gegen das kleine Emirat am Persischen Golf. Der Vorwurf: Katar finanziere Terrororganisationen. Die Forderungen: Katar müsse seinen Nachrichtensender Al Jazeera schließen und zahlreiche als Terroristen identifizierte Personen ausliefern.

Hierzulande legte sich der Medienwirbel um den Feldzug gegen Katar nach wenigen Tagen. Doch die relative Belagerung Katars durch seine nominell Verbündeten hält bis heute an — mit geringem Erfolg. Kristian Coates Ulrichsen erklärt anhand eingängiger Beispiele hervorragend, wie Katar seine drohende Isolation abgewendet hat.

Zugute kommt dem Emirat dabei vor allem sein enormer Reichtum an Öl und Gas. Großabnehmer aus der EU und China sind bis heute so abhängig von Katars Exporten, dass sie sich der Blockade nicht angeschlossen haben. Katar hat die sprudelnden Einnahmen wiederum breit investiert: Das Emirat hat sich in dutzende internationale Firmen und Projekte eingekauft und sich damit das politische Wohlwollen vieler Länder gesichert. So stellte Indien unmittelbar nach Beginn der Blockade eine alternative Seeverbindung für Containerschiffe bereit.

Wer das Machtgefüge im Mittleren Osten verstehen möchte, kommt an den Umwälzungen im Golf-Kooperationsrat nicht vorbei. In diesem Text gibt es dazu handfeste Informationen.

Den Artikel auf Foreign Affairs könnt ihr gratis lesen, nachdem ihr euch unverbindlich angemeldet habt.

EU-Asylpolitik: Europas Flucht vor der Realität

piqer:
Keno Verseck

Vor dieser Leseempfehlung möchte ich eines vorausschicken: Viele Sorgen und Fragen von Bürgern Europas im Zusammenhang mit Flüchtlingen und Migration sind meines Erachtens berechtigt und diskussionswürdig. Auch die Fragen, die so genannte Rechtspopulisten wie Viktor Orbán zu diesem Thema stellen, sind nicht alle per se abwegig.

Dennoch scheint mir die ganze Debatte oft zutiefst verzerrt. Die öffentliche Panik steht meines Erachtens in keinem Verhältnis zu der Zahl der Flüchtlinge, die momentan nach Europa kommen. Der grausame Lebensalltag ost- und westafrikanischer Flüchtlinge in nordafrikanischen Staaten und die zweifelhafte Zusammenarbeit der EU mit den Regimen und Warlords dieser Länder ist in Medien in Deutschland selten Thema. Die mit am meisten betroffenen Länder von der Flüchtlingskrise sind der Libanon und Jordanien. Schlichte Lügen, wie die, dass Orbán an der Südgrenze Ungarns auch Deutschland und Europa verteidigt, werden in der Öffentlichkeit und in vielen Medien inzwischen unhinterfragt stehen gelassen.

Deshalb möchte ich einen Kommentar zum Thema europäische Flüchtlingspolitik in der Zeit empfehlen, den die langjährige Afrika- und Nahostkorrespondentin Andrea Böhm verfasst hat – ein Text, der die Debatte aus dem Blickwinkel einer Journalistin hinterfragt, die in Beirut lebt und von dort nach Deutschland und Europa schaut. Teils subjektiv, teils sehr analytisch und mit vielen wichtigen Denkanstößen und Vorschlägen. Ein seltener und wirklich bemerkenswerter Text in einer Zeit, in der die Hysterie um das Thema Flüchtlinge und Migration immer größer wird.

Offene Grenzen als „Jungbrunnen“ der Wirtschaftsentwicklung?

piqer:
Thomas Wahl

„Was wäre, wenn … alle Grenzen offen wären?“ fragt der Artikel und versucht Antworten am Beispiel von Fakten aus verschiedenen interessanten Studien zu geben. Die Auswahl der Beispiele suggeriert, dass offene Grenzen per se wohlstandssteigernd und positiv wirken. Was dabei „offen“ heißt, wird nicht definiert. Ist das visafreie Reisen schon eine offene Grenze, oder beginnt dies erst bei Wegfall aller Grenzkontrollen?

Wirtschaftsforscher ermittelten in vier unterschiedlichen Studien, dass sich das weltweite Bruttoinlandsprodukt um einen Wert zwischen 67 und 147 Prozent erhöhen würde. Der Grund: Eine Arbeitskraft, die von einem armen Land in ein wohlhabendes zieht, entfaltet – unter anderem durch einen effizienteren Arbeitsmarkt sowie bessere Arbeitsbedingungen und Hilfsmittel – eine erheblich höhere Produktivität.

Das setzt natürlich voraus, dass jeder Einwanderer einen Arbeitsplatz findet. In einem Land ohne ausgebauten Sozialstaat und ohne strenge Lohnkontrolle mag dies sein. Insofern lässt sich schlecht von der mexikanischen Grenze zur USA auf die Verhältnisse in der EU schließen. Zumal auch diese nie ganz „offen“ war.

Sicher wird die Zahl der wirklich Ausreisewilligen meist überschätzt. Ob man aber aus der Tatsache, dass in 14 Jahren visafreien Reisens zwischen Mikronesien und den USA nur 6% der Bevölkerung nach Amerika übersiedelten, den Schluss ziehen kann, dass dies auch für die Relationen EU – Afrika gilt? Hier würde dies bedeuten, dass immerhin fast 80 Mio. Afrikaner umsiedeln, die sich dann auf die wohlhabenderen Länder im Westen Europas verteilen.

Bekannt ist, dass wir Zuwanderung brauchen, das „begrenzte“ Zuwanderung Wachstum befördert:

„Der Arbeitsmarkt ist nichts Statisches, keine Fußballmannschaft mit nur elf Positionen“ …. Viele Zuwanderer schaffen sich ihre eigenen Stellen oder bringen durch Unternehmensgründungen sogar Jobs für andere hervor.

Insgesamt bringt der Artikel also sehr interessante Fakten bei leider „selektiver“ Interpretation.

George Soros – ein progressiver Denker auf Abwegen

piqer:
Ulrich Krökel

Der Name George Soros fiel zuletzt meist im Zusammenhang mit den (oft antisemitischen) Anfeindungen, mit denen der ungarische Regierungschef Viktor Orbán den US-amerikanischen Multimilliardär ungarisch-jüdischer Herkunft im Wahlkampf überzog. Kürzlich verabschiedete das Parlament in Budapest sogar ein Gesetzespaket, das die Arbeit von Flüchtlingshelfern erschweren soll, aber meist nur Stop-Soros-Gesetz genannt wird.

Da das Links-Rechts-Schema heutzutage wieder sehr gut funktioniert, tauchten schnell die üblichen Etiketten auf. Für die einen, die Linken und Liberalen, ist meist klar, dass Soros zumindest eher zu den Guten gehören muss, da Orbán rechtsnational und böse ist. Für die anderen, die Rechten und (selbsternannten) Illiberalen, gehört Orbán zu den wichtigsten Verteidigern Europas und des christlichen Abendlandes. Also muss Soros tatsächlich ein finsterer Strippenzieher des (jüdischen) Großkapitals sein.

Wirklich Kluges hat man derweil nur selten über Soros und seine Aktivitäten gelesen. Daniel Bessner macht es nun im Guardian deutlich besser. Sein long read über die Soros-Philosophie ist mit das Klügste, was ich bislang zu dem Thema gelesen habe. Ich empfehle die Lektüre deshalb uneingeschränkt. Ein Appetizer vorweg:

Soros is an intellectual. And the person who emerges from his books and many articles is not an out-of-touch plutocrat, but a provocative and consistent thinker committed to pushing the world in a cosmopolitan direction in which racism, income inequality, American empire, and the alienations of contemporary capitalism would be things of the past. He is extremely perceptive about the limits of markets and US power in both domestic and international contexts. He is, in short, among the best the meritocracy has produced. It is for this reason that Soros’s failures are so telling; they are the failures not merely of one man, but of an entire class – and an entire way of understanding the world.

Das Gesicht des Klimawandels

piqer:
Nick Reimer

Schwere Unwetter mit außergewöhnlich viel Regen in Japan: Mindestens 65 Menschen sind ums Leben gekommen, 45 Japaner werden vermisst. Besonders betroffen ist die Region um die Millionenstadt Hiroshima. In der Provinz Kochi verzeichnete der japanische Wetterdienst Niederschlagsmengen von 260 Millimetern innerhalb von drei Stunden – der höchste Wert seit Beginn der entsprechenden Aufzeichnungen im Jahr 1976. Millionen Japaner müssen ihre Häuser verlassen. Entspannung ist nicht in Sicht.

Extreme Dürre dagegen in Mitteleuropa: Auch in Deutschlands leidet die Landwirtschaft unter Hitze und Trockenheit. Die Werte des für Pflanzen nutzbaren Wassers seien punktuell auf unter 30 Prozent gesunken, teilte der Deutsche Wetterdienst mit. Teile Ostdeutschlands erleben nach DWD-Angaben derzeit eine der schlimmsten Trockenperioden seit Beginn der regelmäßigen Aufzeichnungen vor mehr als 55 Jahren.

Andererseits war das Wetter der letzten Wochen auch hierzulande durch ungewöhnlich viele und heftige Regenfälle geprägt. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) gab 3.000 Unwetterwarnungen heraus – das ist einmalig. Schon der Juni war der Monat der krassen Wetterextreme.

Ist das das Gesicht des Klimawandels? „Ja“, sagt Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Der Klimatologe ist Professor für Physik der Ozeane an der Universität Potsdam und gilt als einer der wichtigsten „Erklärer“ des Problems der Erderwärmung. Unter anderem beschreibt er Zusammenhänge auf dem Wissenschaftsblog klimalounge. Sein Stück aus dem Jahr 2016 beschäftigt sich mit Niederschlag, der Physik und der Zukunft. Titel: „Warum die globale Erwärmung mehr Extremregen bringt“.

Aktuell sehr zu empfehlen!

Kohlekraftwerke abschalten? Ein Streitgespräch zwischen Gewerkschaft und Grünen

piqer:
Daniela Becker

Die deutsche Energiewende wie sie im Moment abläuft, produziert nicht nur Gewinner. Wenn Kohlekraftwerke schließen, verlieren Menschen Arbeitsplätze. Wenig überraschend ist daher, dass die Bergbaugewerkschaft IG BCE in den vergangenen Jahren massiv gegen alle Bestrebungen vorgegangen ist, deutsche Kohlekraftwerke vom Netz zu nehmen.

Die Süddeutsche Zeitung hat die Grünen-Chefin Annalena Baerbock und den Gewerkschaftsvorsitzenden Michael Vassiliadis dazu zu einem Streitgespräch geladen.

Beide haben nachvollziehbare Argumente. Baerbock betont die Notwendigkeit des Klimaschutz und die Tatsache, dass bestehende Kohlekraftwerke den Ausbau der Erneuerbaren blockieren. Vassiliadis bringt zu Recht an, dass es dem Klima erstmal gar nichts bringt, ein paar Kraftwerke still zu legen, solange in anderen Sektoren und Ländern fröhlich weiter Klimagase emittiert werden.

Baerbock: Für diese Staaten, für die Menschen ist doch nicht belanglos, ob ihr Land in 20 Jahren noch da sein wird oder nicht.

Vassiliadis: Natürlich ist das nicht belanglos. Es ist aber für das globale Klima belanglos, ob die Kraftwerke in der Lausitz 2041 oder 2021 abgeschaltet werden.

Die Fronten sind klar. Man hat für die gegenseitigen Standpunkte auch Verständnis. Was nicht ausgesprochen wird, aber durch das Interview einmal mehr klar wird: Der deutschen Energiepolitik mangelt es an einer positiven Vision. Solange Menschen die damit einhergehenden notwendigen und teils drastischen Umbrüche ausschließlich als Gefahr und Verlust präsentiert bekommen, kann die Energiewende nicht gelingen.

Besser digitalisiert Arbeiten – eine Podcastreihe des DGB

piqer:
Cornelia Daheim

Was heißen eigentlich die Schlagworte von flexibler, selbstorganisierter, agiler und digitalisierter Arbeit, und womit beschäftigt sich aktuell die Forschung dazu? Das für jedermann verständlich zu machen, hat sich Theresa Samuelis in dieser Podcast-Folge vorgenommen.

Sie widmet sich dabei zwei Forschungsprojekten mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten. Zum einen geht es um Wissensarbeit, die ja oft als entgrenzt und belastend wahrgenommen wird – unter anderem, weil der notwendige Zeitaufwand von komplexen Aufgaben schlecht einzuschätzen ist. Das Forschungsprojekt, aus dem berichtet wird, versucht hier anzusetzen und aktuell eine Vorgehensweise zu erarbeiten, mit der für komplexe digitalisierte geistige Arbeit besser eingeschätzt werden kann, wie lange Arbeiten dauern und was zumutbare, gut machbare Leistung ist (hier die Projektwebsite – leider liegen noch keine veröffentlichten Ergebnisse vor, nach denen wie ich sicher alle Wissensarbeiter lechzen …). Zum anderen geht es um Pflege, und die Rolle, die die „Arbeit mit allen Sinnen“ oder sogenannte „Interaktionsarbeit“ hier spielt, damit „gute Arbeit“ geleistet werden kann, und diese auch als sinnvoll erlebt wird. Zentral ist hier Empathie und die Beziehungsebene zum Patienten – welchen Einfluss da Digitalisierung hat, reflektiert der Podcast mit einer Vielzahl von O-Tönen.

Die empfohlene Folge ist Teil einer Serie des Deutschen Gewerkschaftsbunds (dessen Perspektive natürlich deutlich durchscheint) zur Zukunft der Arbeit, in dem Wissenschaftler zu Wort kommen, aber auch Betriebsräte und Führungskräfte aus Unternehmen, immer unter Rückbezug auf Forschungsprojekte des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Andere Folgen beschäftigen sich zum Beispiel mit der zunehmenden Bedeutung von Bildung oder künstlicher Intelligenz im Arbeitskontext. Dass dabei „sperrige“ Forschungsthemen zugänglich vermittelt werden, macht die Reihe so empfehlenswert.