Fremde Federn

Elitenpanik, Suffizienz-Wirtschaft, Ameisen-Gesellschaft

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum Menschen den Erhalt des Status quo dem Schutz von Menschenleben vorziehen, welche Gefahren für Demokratie und Wirtschaft in der Krise lauern und wie das EEG die Welt verändert hat.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Elitenpanik und politische Hoffnung: Rebecca Solnits aufrüttelnder Essay über die Corona-Krise

piqer:
Daniel Schreiber

Es ist ziemlich klar, dass wir nach der Corona-Krise anders auf die Welt schauen werden. Nur wissen wir noch nicht, wie. Wenn man heute einen Text liest, sollte es dieser aufrüttelnde Essay von Rebecca Solnit sein. Er setzt sich nicht nur wohltuend von all den Orakel- und Panikstücken ab, die der tägliche Journalismus hervorbringt, sondern dringt auf eine Art und Weise zum menschlichen Kern der Sache vor, wie ich sie noch nicht gelesen habe, und macht auf ganz reale und grundlegende Weise Hoffnung.

Solnits Ausgangspunkt sind Überlegungen zu dem, was Katastrophenforscher „Elitenpanik“ nennen – die Angst der Eliten vor ökonomischem und politischem Machtverlust, die dazu führt, dass sie das Leben ärmerer Bevölkerungsgruppen dem Funktionieren des Status Quo unterordnen. Solnit bringt dafür einige erschreckende Beispiele aus der jüngeren Geschichte an und einige nicht minder zynische aus den vergangenen Wochen – Donald Trumps, Jair Bolsonaros und Boris Johnsons Versuche etwa, sich aus wirtschaftlichen Gründen gegen lebensrettende Social-Distancing-Maßnahmen zu sperren. Zugleich rückt sie in den Fokus, wie es gerade aufgrund solcher Maßnahmen zu öffentlichem Widerstand kommt; ein Widerstand, der manchmal – auch hier führt sie einige historische Beispiele an – zu wirklichen Veränderungen führt.

Der Dreh- und Angelpunkt des Essays ist die berechtigte Hoffnung, dass wir uns durch die Corona-Krise auf jene Ideen der Menschlichkeit besinnen, die die neoliberale Welt, in der wir bis zum vergangenen Monat gelebt haben, an die Seite gedrängt hat. Solnit nennt viele Beispiele für politische Maßnahmen, die bis vor kurzem noch unvorstellbar gewesen waren: Krankengeld in den USA, die Nationalisierung der Krankenhäuser in Irland, das deutsche Rettungspaket. Es ist für sie mehr als vorstellbar, dass wir uns der „Privatisierung des menschlichen Herzens“, wie sie es nennt, zukünftig mehr verweigern, dass wir uns wieder stärker dem Gemeinwohl widmen werden, dem Schutz von Klima und Sozialsystemen, dass es zumindest für eine Zeit, wie nach anderen historischen Krisen zuvor, zu einer Bewusstseinsveränderung kommt, die sich positiv auf unser Leben und unsere politischen Systeme auswirkt. Doch das ist alles nur verkürzt und im Vergleich zu Solnits klugen, eleganten Worten holprig ausgedrückt. Man muss diesen Text unbedingt lesen, am besten mehrmals.

Unser Eigentum nimm uns morgen?

piqer:
Thomas Wahl

So ein Interview ist doch aufschlussreicher als jede Buchbesprechung. Der Autor im Originalton liefert m. E. viel tiefere Einblicke in seine Gedankenwelt. Piketty wechselt in seinem jüngsten Werk von den realen Prozessen zu deren ideologischen Widerspiegelungen. So sagt er über die Geschichte des Kapitalismus und ihre begründenden Ideen:

Statt zu behaupten, dass die Stabilität aus einer hierarchischen Harmonie hervorgeht, sagt man, dass das Recht auf Eigentum nunmehr allen offenstehe und der Staat die Aufgabe habe, dieses Recht zu schützen. Im 19. Jahrhundert mündet diese von Balzac so anschaulich beschriebene Sakralisierung des Rechts auf Eigentum in einer extremen Ungleichheit zum Vorteil weniger. Die koloniale Expansion und die zügellose Konkurrenz zwischen den europäischen Nationen verstärken dieses Phänomen noch. Die inegalitäre Dynamik wird schließlich die Selbstzerstörung der europäischen Gesellschaften zwischen 1914 und 1945 hervorrufen.

Ob damit das Recht auf Eigentum wirklich „sakralisiert“ wurde, darüber kann man trefflich streiten. Man sollte dann aber den historischen Prozess auch nicht so einseitig auf den Faktor „Ungleichheit“ zurückführen. Das ist doch ein recht eindimensionales Denken – die angebliche Sakralisierung des Privateigentums wird durch die Sakralisierung der Gleichheit ersetzt? Wobei er hier eher Einkommens- und Vermögensgleichheit meint. Die anderen positiven Gleichheitsprozesse dieser Zeit, bei Bildung, Wahlrecht oder bei politischen Organisationen wie Gewerkschaften oder Parteien, werden nicht genannt. Er sieht dann nach dem Zweiten Weltkrieg eine Welle der Förderung von Gleichheit. Sie entwickelt sich über ein progressives Steuern hin zu sozialdemokratischen Politikmodellen, die auf mehr Egalität gerichtet sind. Aus meiner Sicht setzt sich da eigentlich der Prozess vor dem Ersten Weltkrieg und auch der Zwischenkriegszeit fort. Aber ist da die Ideologie der eigentliche Treiber oder eher das Wirtschaftswachstum durch Wiederaufbau bzw. in der USA auch durch wirtschaftliche und politische Dominanz? Gleichzeitig ermöglichen natürlich hohe Löhne dem Kapital auch neue und wachsende Märkte, ist auch Eigeninteresse im Spiel. Warum kam es nun zum Ende dieser Prozesse?

Die Erzählung, die von Ronald Reagan in den USA und von Margaret Thatcher in Großbritannien präsentiert wurde, besaß durchaus Plausibilität. Sie besagte, dass man den Wohlfahrtsstaat zu sehr ausgebaut habe und es folglich an der Zeit sei, den Einfluss des Staats zu reduzieren, um die Wirtschaft wieder dynamischer zu machen. …

Er konstatiert also, dass der Weg zu mehr Gleichheit nach einiger Zeit zu Stagnation geführt hat. Oder ist das auch Ideologie? Man könnte ja sagen, dass jede Ideologie nach einiger Zeit überzieht und dann negative Ergebnisse liefert.

Doch das Ereignis, das dem neoliberalen Diskurs wirklich zu Überzeugungskraft verholfen hat, ist der Niedergang des Kommunismus Ende der 1980er-Jahre. Das sowjetische Desaster hat das Nachdenken über die Chancen, eine egalitäre Gesellschaft zu errichten, für sehr lange Zeit verbaut, weil es das Gefühl verstärkte, dass eine gerechte Ökonomie und Gesellschaft nicht mehr im Bereich des Möglichen lag.

Hier schimmert durch, dass Piketty Gleichheit eigentlich aus Gerechtigkeitsgründen will, diese damit normativ begründet. Ob sie wirklich funktioniert, scheint ihm erst mal sekundär. Und er stellt weiter fest,

dass die Erzählung Reagans und Thatchers, die vorgibt, mithilfe des Anstiegs der Ungleichheiten das Wirtschaftswachstum zu dynamisieren, nicht funktioniert hat.

Das ist natürlich die Gefahr aller Denkmodelle – sie funktionieren oft nicht endlos und schon gar nicht ideal. So wäre die Frage, was passiert bei diesem Vorschlag mit dem Wert oder besser der Bewertung des Vermögens:

Für Eigentum, das einen Wert von mehreren Milliarden Euro erreicht, schlage ich hingegen eine progressive, sehr viel höhere Steuer vor: 50, 60, 90 Prozent. Das würde Vermögensbesitz von mehreren Milliarden Euro ein Ende bereiten; die Möglichkeit von Besitz in der Größenordnung von ein paar Millionen, sogar ein paar Dutzend Millionen Euro bliebe hingegen erhalten.

Welchen Wert würde man einem Vermögen von z. B. Bill Gates zusprechen, wenn es periodisch mit 80% besteuert wird? Im Grunde eine glatte Enteignung, die mittelfristig zu kompletten Streubesitz an Unternehmensanteilen führt? Und damit zur Herrschaft der Manager?

Erfolg Made in Deutschland: Die Erneuerbaren liefern jetzt mehr als 50 Prozent

piqer:
Nick Reimer

Vor 20 Jahren trat das Erneuerbare-Energien-Gesetz in Kraft, ein Gesetz, das die Welt verändern sollte. Denn einerseits hat das EEG eine technologische und ökonomische Revolution ausgelöst, die überhaupt erst die Klimakrise bekämpfbar macht: Erneuerbare Energien sind Dank der vom Bundestag beschlossenen Technologieförderung heute weltweit wettbewerbsfähig, verglichen mit den Anfangsjahren kostet die Photovoltaik heute nur noch 10%. Bei der Windkraft ist das ähnlich – und erst diese Kostensenkung in Deutschland sorgte dafür, dass heute weltweit tatsächlich mehr Geld in erneuerbare Kraftwerke gesteckt wird als in fossile. Es lohnt sich einfach nicht mehr, ein neues Kohlekraftwerk zu bauen, Photovoltaik ist billiger.

Andererseits ist im Windschatten des EEG eine neue Industrie entstanden, die bald doppelt so viele Menschen beschäftigt wie die fossile Stromwirtschaft. Die Innovationskraft der Windkraft-, Biogas- und Solarpanel-Hersteller war beispiellos: Die Kosten für ein neues Sonnenkraftwerk fielen beispielsweise dank technologischen Fortschritts jährlich um 13%. Und weil das  die Nachfrage ankurbelte, weil plötzlich nicht mehr nur Klimaschützer und Pioniere der Energiewende investierten, wurde immer mehr produziert, was die Kosten pro Stück weiter senkte.

Das hat den deutschen Energiemarkt revolutioniert: Schätzungen zufolge sind inzwischen mehr als 1,5 Millionen Deutsche Besitzer von Grünstromkraftwerken, die ehemals großen Stromkonzerne besitzen gerade einmal 5% der neuen Kraftwerkstechnologien. Und so haben sich auch die Marktanteile gehörig verändert: Erstmals haben die Erneuerbaren im ersten Quartal 2020 mehr Strom als alle anderen Energieträger geliefert. Sonne, Wind und Co. waren demnach für 77 Milliarden Kilowattstunden Strom verantwortlich – 52% des deutschen Stromverbrauches. 1993 hatten die deutschen Fossilkonzerne noch behauptet, die Bundesrepublik könne niemals mehr als 4% ihres Stromverbrauchs aus erneuerbaren Quellen erzeugen. Und jahrzehntelang erklärten uns RWE, Eon, Vattenfall und Co., ohne Kohle bräche unsere Versorgung zusammen, unisono mit Teilen der Politik übrigens.

Also: Herzlichen Glückwunsch EEG! Und die Bitte an jene Politiker, die 20 Jahre später das Erbe zu verwalten haben: Haucht dem EEG endlich neues Leben ein! Denn im 20. Jahr seines Wirkens ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz nur noch ein Scherbenhaufen.

Volkswirtschaft, Politik und Virus – ein Balanceakt

piqer:
Thomas Wahl

Erwartungsgemäß steigt die Flut der Artikel, die sich mit der Corona-Pandemie beschäftigen auch im Bereich der wirtschaftlichen und politischen Folgen.

Im Wesentlichen laufen die Empfehlungen der Virologen, denen die Politiker aller Länder mehr oder weniger folgen darauf hinaus,

… durch so­zia­le Di­stanz und eine zeit­wei­se Aus­trock­nung des ge­sell­schaft­li­chen Le­bens die Aus­brei­tung des Virus zu ver­lang­sa­men. Ziel ist es, das Ge­sund­heits­sys­tem nicht zu über­las­ten und Zeit zu ge­win­nen, um Me­di­ka­men­te oder einen schüt­zen­den Impf­stoff zu fin­den und zu ent­wi­ckeln. Die Emp­feh­lun­gen set­zen viel Ver­trau­en in die Fä­hig­kei­ten der For­scher und der Po­li­tik vor­aus, als quasi wohl­mei­nen­de Dik­ta­to­ren Ri­si­ken zu er­ken­nen und rich­tig ein­zu­schät­zen.

Offensichtlich fällt es den Ökonomen schwerer abzuschätzen, wie einerseits die Folgen des Einfrierens sozialer und damit wirtschaftlicher Aktivitäten aussehen und was man andererseits tun sollte, um das Einbrechen der Wirtschaft zu minimieren. Immerhin gibt es Konzepte sowie eine kleinere Zahl von Studien, auf die man zurückgreifen kann. Klar ist,

… dass es immer einen Ge­gen­satz geben werde zwi­schen Pan­de­mie­be­kämp­fung und wirt­schaft­li­cher Ent­wick­lung. Der Ge­dan­ken­gang ist leicht nach­zu­voll­zie­hen. Kom­men immer mehr Men­schen aus Angst vor dem Virus immer sel­te­ner zu­sam­men, dann gibt es we­ni­ger In­fek­tio­nen. Doch zu­gleich schrumpft die Pro­duk­ti­on, und es sinkt die Nach­fra­ge nach Gü­tern.

Eine Analyse der „Spanischen Grippe“, die vor etwa 100 Jahren mehr als 50 Millionen Opfer forderte. Da zeigten die Städte, die sich der Pandemie schnell und entschlossen entgegenstellten, einen geringeren Einbruch ihrer Wirtschaften.

Den Grund muss man wohl darin ver­mu­ten, dass ein schnel­les Ein­grei­fen we­ni­ger Men­schen­le­ben kos­te­te und so spä­ter eine schnel­le­re Wie­der­be­le­bung der Wirt­schaft er­mög­lich­te.

Andere Ökonomen warnen vor den langfristigen Folgen, die daraus entstehen könnten, dass der Staat seinen gewonnenen Einfluss auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse nicht gern wieder abgibt:

Po­li­tik und Bü­ro­kra­tie in de­mo­kra­ti­schen Staa­ten haben noch keine Krise als Chan­ce aus­ge­las­sen, um ihren Ein­fluss auf das Leben der Bür­ger zu wei­ten. Der ame­ri­ka­ni­sche Öko­nom und His­to­ri­ker Ro­bert Higgs be­schrieb das vor mehr als drei­ßig Jah­ren in sei­ner Stu­die „Krise und Leviathan“ als Sperr­klin­ken­ef­fekt …

Auch die Bürger werden zukünftig öfter fordern, dass ihre Regierungen viele Prozesse detaillierter sowie ausgiebiger steuern und verantworten.

Wenn Öf­fent­lich­keit und Bü­ro­kra­tie sich erst ein­mal an die schein­bar faire und effektive Pan­de­mie­be­wirt­schaf­tung von Ge­sichts­mas­ken, me­di­zi­ni­schem Gerät und viel­leicht gar Le­bens­mit­teln ge­wöhnt haben, wer­den sie dann nach der Krise wie­der der frei­en Markt­wirt­schaft Vor­rang geben?

Auch viele Parlamentarier können sich an das Verteilen von Finanzhilfen gewöhnen, es gibt sicher ein gutes Gefühl. Der ungarische Weg von Viktor Orbán ist sicher das extremste Beispiel, verdeutlicht aber, das eine Pandemie keine gute Zeit für die Freiheit ist. Wollen wir das wirklich? Hier sollten wir genau hinschauen.

Wie es in Deutschland weitergehen könnte, das zeigt ein Interview mit dem „Wirtschaftsweisen“ Volker Wieland ebenfalls in der FAZ. Er bezieht sich dabei auf das jüngste Sondergutachten des Sachverständigenrates zur wirtschaftlichen Auswirkung der Corona-Krise. Erwartungsgemäß heißt es, je länger, je schlimmer:

Wir vom Sachverständigenrat haben in unserem Sondergutachten verschiedene Szenarien durchgerechnet. Im Basisszenario, mit fünf Wochen Stillstand und danach zwei Wochen Erholung, kommen wir fürs zweite Quartal auf einen Einbruch der Wirtschaft etwa in der Größenordnung wie in der Finanzkrise 2009 – und fürs Jahr gerechnet auf eine Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts um etwa 2,8 Prozent. Wenn es schlimmer kommt, und wir sieben Wochen Stillstand haben mit drei bis vier Wochen Erholung, wird der Einbruch aber überproportional stärker.

Das gilt wohl besonders für Dienstleistungen in Hotels und Gastgewerbe, in der Reisebranche, der Luftfahrt oder auch für den Unterhaltungssektor. Die Produkte der Industrie, Autos oder Waschmaschinen, kann man später noch nachproduzieren. Was heute im Restaurant nicht gegessen wird, ist verlorenes Geschäft.

Bedingungsloses Grundeinkommen: Ist jetzt die Zeit reif?

piqer:
Moritz Orendt

Die Bundesregierung hat beschlossen, 156 Milliarden Euro neue Schulden aufzunehmen, um Gesundheit, Arbeitsplätze und Wirtschaft vor der Corona-Pandemie zu schützen. Alleine 600 Milliarden Euro sind für den Wirtschaftsstabilisierungsfond geplant, der den Unternehmen durch die Krise helfen soll.

Spätestens jetzt stellt sich die Frage: Sollte man das Geld nicht direkt an die Bürger auszahlen? Ist jetzt nicht die Zeit gekommen, um ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen? Rico Grimm, Chefredakteur der Krautreporter und piqer, hat sich intensiv mit der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens auseinandergesetzt und wird uns im piqd Online College den Stand der Debatte verständlich erklären.

Hier findet ihr Ricos Skript und spannende Links zu dem Thema.

Wirtschaftskrise überstehen mit Wenigerismus

piqer:
Leonie Sontheimer

Nicht für alle, aber doch für viele ist diese Zeit eine erzwungene Pause. „Wenigerismus“ hat Luisa Neubauer das Mitte März in ihrer Stern-Kolumne genannt:

Weniger Termine, weniger Reisen, weniger machen, Wenigerismus. Zwangs-Entschleunigung, und wir richten uns ein.

Und genau diese Entschleunigung, die einerseits dazu führt, dass die Wirtschaft in eine Rezession schlittert, könnte uns auch langfristig wieder aus der Wirtschaftskrise heraushelfen. Das schrieben der Ökonom Steffen Lange und Sozialwissenschaftler Tilman Santarius (die bereits gemeinsam ein Buch zu Digitalisierung und Nachhaltigkeit veröffentlicht haben) in einem Gastbeitrag auf ZEIT ONLINE. Der Grundgedanke:

Aus volkswirtschaftlicher Sicht kann eine Wirtschaft auch auf einer niedrigeren Produktionsebene und ohne Wachstum stabil und funktionsfähig sein. Produktion und Einnahmen von Unternehmen gehen aufgrund der Kontakteinschränkungen zwar zurück, wodurch die Menschen wiederum weniger verdienen. Sie benötigen aber im Durchschnitt auch weniger Geld, da sie weniger konsumieren.

Es gehe folglich darum, ein neues Gleichgewicht auf einem niedrigeren Niveau zu finden. Um aus der jetzigen Situation glimpflich in dieses niedrigere Niveau zu kommen, schlagen die zwei Gastautoren verschiedene Maßnahmen vor:

  • Reduktion der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsmenge (Arbeitszeitverkürzung, 32- oder 24- statt 40-Stunden-Woche)
  • Staat als umverteilende und existenzsichernde Instanz stärken
  • Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens
  • Zusammenlegung der privaten und gesetzlichen Krankenversicherungssysteme

All diese Maßnahmen sind höchst komplex und es wäre wünschenswert, zu jeder einzelnen Maßnahme einen eigenen Beitrag zu haben. Vielleicht legt ZEIT ONLINE ja noch nach?!

Das finnische Mittel gegen Obdachlosigkeit: Wohnungen

piqer:
Antje Schrupp

„Ein Obdachloser ist in den Straßen Helsinkis kein öffentliches Ärgernis, sondern ein sozialer Missstand, der behoben werden muss.“ – Nach dieser Maxime handelt Finnland seit einigen Jahren. Wer eine Wohnung braucht, bekommt eine. Deshalb gibt es so gut wie keine Straßenobdachlosigkeit mehr.

Das Vorgehen bricht mit der traditionellen Anti-Obdachlosen-Politik, die eher darauf setzt, die Betroffenen aus dem öffentlichen Stadtbild zu vertreiben und unsichtbar zu machen. Obdachlosigkeit hat ja häufig eine Vorgeschichte und Gründe: Die meisten Obdachlosen haben psychische Probleme, zerbrochene Beziehungen, sind arbeitslos oder suchtkrank. Die üblichen Hilfsangebote für diese Personengruppe zäumen das Pferd sozusagen von hinten auf: Sozialarbeit setzt bei den individuellen Problemen an, und wenn die Menschen sich dabei anstrengen, diese zu lösen – etwa den Drogenkonsum aufzugeben – lockt am Ende als Belohnung die Aussicht auf eine Wohnung. In Finnland hat man diese Logik umgedreht: Erstmal ein Dach über dem Kopf zu haben, hilft nämlich sehr dabei, andere Probleme anzugehen.

Wie dieser Ansatz in Finnland umgesetzt wird und warum er sich – auch wenn die Versorgung teuer ist – für die Gesellschaft unterm Strich dennoch „rechnet“, erfährt man in diesem Text.

Achillesferse Krankenhaus

piqer:
RiffReporter eG

Die Achillesferse, nicht nur in Italien, sondern auch bei uns ist das Gesundheitswesen: Es müsste sich nun rasch dehnen – 14 Behelfskliniken und 50.000 Ärzte zusätzlich brauchte es in Wuhan. Aber elastisch wurde das Krankenhauswesen hierzulande kaum gedacht. Im Gegenteil: Es wurde in den letzten Jahren auf Effizienz ausgerichtet.

Deswegen hat man eine andere Schraube des Gesundheitswesens bedient, wie es auch Italiens Kliniken getan haben. Patienten, die zu einer geplanten OP kommen, müssen bis auf unbestimmte Zeit warten.

Aber wie gut kann das funktionieren? Wie bereitwillig vertrösten Krankenhäuser ihre lukrativen Hüft- und Herzkatheterpatienten? Kliniken sollen schwarze Zahlen schreiben. Manager achten darauf, dass die Operationssäle dicht belegt sind und maximale Vergütung erzielen. Chefärzte bekommen regelhaft mehr Gehalt, wenn sie die Zielvorgaben erfüllen. 90 Prozent aller Chefarztverträge in hiesigen Krankenhäusern sehen solche Boni vor. Wie kann ein System, dass seit Langem an erster Stelle effizient laufen soll, in dem Patienten Fälle sind und Ärzte in Minuten eingeteilt werden, auf einmal den notleidenden Coronapatienten in den Blick nehmen? Zumal die Versorgung von Coronapatienten vergleichsweise wenig lukrativ ist. Es gibt keinen Schalter, der ein geldorientiertes System über Nacht zu einem barmherzigen Ort macht.

Susanne Donner wirft in ihrem Text noch einen weiteren Punkt auf. Patienten bekommen in deutschen Krankenhäusern immer wieder Therapien, die sie nicht unbedingt wollen.

„Da ist die Luft zum Guten in der Coronakrise“, betont ein anonym gefragter Arzt eines Krankenhauses. Ihm zufolge kursieren nun Notfallpatientenverfügungen. Pflegeheimbewohner sind aufgerufen, anzugeben, was sie wollen: 1. nicht ins Krankenhaus: nur eine lindernde Therapie, 2. eine Behandlung im Krankenhaus, aber keine Intensivtherapie oder 3. Maximalversorgung, also alle Formen der Beatmung bis zum ECMO.

„Advanced care planning“ – wörtlich „fortgeschrittene Pflegeplanung“ – heißt es im Fachjargon, wenn man Menschen vorher fragt, was sie im Krankenhaus für Therapien möchten. Auch im Papier der Fachgesellschaften taucht sie als Option auf, die Überlastung der Kliniken abzuwenden.

Albrecht sagt: „Wenn wir von einer Flut von Notfallpatienten überrollt werden, haben wir keine Zeit, Patienten und Angehörige nach ihren Wünschen zu befragen.“ Und der Arzt aus dem deutschen Krankenhaus hofft: „Wenn wir das jetzt einführen, können wir die schlimme Altersdiskriminierung wie in Italien vermeiden, die ansonsten mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auf uns zukommt.“

Was unsere Gesellschaften zusammenhält – vielleicht

piqer:
Thomas Wahl

Mir hat diese, durchaus auch kritische, Rezension Lust gemacht auf das Buch. Am schönsten ist der Schlußsatz der Buchbesprechung:

Mit Sicherheit hat Moffett ein sehr lesenswertes und immer wieder überraschendes, manchmal ermüdendes, manchmal auch ärgerliches Buch geschrieben. Ich wage zu sagen: Keine Ameise könnte so über Affen, Menschen und Ameisen schreiben! Und falls doch irgendwo in der Ameisenwelt aus einem Forschungsinstitut für riesige Zweibeiner (Research Institute for Giant Bipeds) heraus ein analoges Buch entstehen würde oder gar schon entstanden ist: Wir werden es wohl nie erfahren. Ich würde es aber rasend gerne lesen!

Der Originaltitel des Buches von Mark W. Moffett lautet zwar „The Human Swarm. How our Societies Arise, Thrive, and Fall“ – aber es geht  um die Entstehung, die Stabilität und die Dauer sozialer Ordnungen sowohl in tierischen als auch in menschlichen Sozialverbünden verschiedener Arten und Umfänge. Behandelt wird also die Grundfrage der Soziologie. Moffett gilt als »wilder Mann« seiner Fachgebiete, „von der National Geographic Society wurde er ironisch-bewundernd als der »Indiana Jones der Entomologie« bezeichnet“.

Sein Blick aus der Soziobiologie, also von den sozialen Strukturbildungen bei einfachen, bis  hin zu komplexen Lebewesen, ist sicher fruchtbar für das Verstehen menschlicher Gesellschaften. Man muß sehen, wie weit dieser Blick unsere Erkenntnis trägt. Da ist die Kritik bzw. die Warnung des Rezensenten sicher angebracht.

Die Grundthese des Buches könnte sein:

Anders als Tiersozietäten bilden Menschen nicht nur Klein-, sondern auch mittelgroße und sehr große Sozialverbünde, also Clans, Dörfer, Städte, Staaten, Nationen, Reiche. Menschen können mehr oder weniger problemlos und angstfrei in Großgesellschaften leben, ohne jedes einzelne Mitglied persönlich zu kennen. Das können Schimpansen und Bonobos nicht; sie fühlen sich nur sicher im Umfeld ihrer Horde, von der sie jedes einzelne Mitglied persönlich kennen. Auch einander fremde Menschen erkennen sich an bestimmten sozialen Markern. Sind die Marker passend, ist persönliche Vertrautheit nicht nötig. Soziale Marker können alle Signale sein, die einem deutlich machen, dass man Gemeinsamkeiten mit dem Fremden hat – der dann eben kein Fremder mehr ist.

Moffetts Botschaft besagt im Kern: Was menschliche Gruppen zusammenhält, sind immer die Anderen, von denen wir uns abgrenzen. Gruppen, Stämme oder Nationen halten zusammen, in dem (und so lange) sie sich von anderen unterscheiden.

Manchmal machen wir diese Unterschiede stark, manchmal stellen wir sie zurück. Das können Ameisen nicht. Wir werden und bleiben wir, weil und solange es die anderen gibt. Manchmal reden wir mit den anderen, manchmal arbeiten wir zusammen, manchmal heiraten wir ihre Töchter, manchmal schlagen wir sie tot. Nach Moffett wird sich das im Prinzip nie ändern.

Was die Frage aufwirft, ob es jemals eine „universell-harmonische Weltgesellschaft“ geben kann? Wer wären dann „die Anderen“? Wie wir aus „Raumschiff Enterprise“ wissen, gäbe es ja noch die humanoiden Klingonen, Romulaner und Cardassianer und die teilweise künstlichen Borg. Also besteht noch Hoffnung für die geeinte Menschheit. Eine Leseprobe findet man direkt beim Verlag.

Die Seuche und die Ausländer: Wie iranische Studenten in Ungarn zu Coronavirus-Sündenböcken wurden

piqer:
Keno Verseck

Es war – eigentlich – erwartbar, wen Viktor Orbán und seine Regierung für die Ausbreitung der Coronavirus-Epidemie in Ungarn verantwortlich machen würden: illegale Migranten, ausländische Studenten, liberale Oppositionspolitiker und nicht zuletzt den US-Börsenmilliardär ungarisch-jüdischer Herkunft George Soros sowie sein angebliches Netzwerk. Diese abstruse und entsetzliche Sündebocksuche habe ich Mitte März in einem Artikel für die Deutsche Welle beschrieben. (Natürlich lässt Orbán über die Verantwortlichkeit des totalitären Regimes in China, das die Epidemie seit Monaten vertuscht und herunterspielt, kein Wort fallen.)

Besonders abstoßend ist die seit Anfang März laufende ungarische Regierungskampagne gegen iranische Studenten in Ungarn. Zwei von ihnen waren nach ihrer Rückkehr von einem Heimatbesuch Anfang März positiv auf Covid-19 getestet worden und – rein zufällig – die ersten bekannten Covid-19-Kranken in Ungarn. Viktor Orbán leitete daraus ab, dass „Ausländer das Virus nach Ungarn gebracht“ hätten, nachdem er, seine Regierung und regierungsnahe Medien die Gefahr vorher noch heruntergespielt hatten. Mehrere iranische Studenten wurden unter Quarantäne gestellt; da sie laut offizieller Darstellung in der Quarantäne-Einrichtung randaliert hätten, wurden sie aus Ungarn ausgewiesen (eine unabhängige Prüfung der Vorfälle war nicht möglich). Die oberste ungarische Amtsärztin Cecília Müller, die die Öffentlichkeit derzeit fast täglich über die epidemische Lage informiert, erinnerte seither wiederholt daran, dass die Epidemie in Ungarn mit den iranischen Studenten begonnen habe, zum vorerst letzten Mal am Sonnabend (4.4.2020) während ihrer Routinepressekonferenz (Minute 2:34 – 3:00).

Warum hat sich die ungarische Regierung ausgerechnet auf iranische Studenten eingeschossen? Sie bringen dem ungarischen Staat jährlich immerhin viele Millionen Euro ein. Und immerhin strebte Orbán jahrelang spezielle Beziehungen zum Iran an; Teil dieser Bemühungen war auch das Anwerben iranischer Studenten. Hinter der Kampagne stecken nicht nur die xenophob-chauvinistischen Wahnvorstellungen von Orbán und seiner Regierung, wie das ungarische Investigativ-Portal Direkt36 in einer ausführlichen Geschichte über die Kampagne aufzeigt. Im Hintergrund geht es wohl auch um Geopolitik. Eines muss man Orbán dabei lassen: Schon seit Jahren sagt er ganz offen, dass er von wertegeleiteter Außenpolitik nichts hält und es ihm nur und allein um ungarische Interessen geht.