Fremde Federn

Corona-Klima, digitale Lieferketten, Epochenbruch

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie sogenannte „Digitale Physische Produkte“ die neue Globalisierung bestimmen könnten, warum die Corona-Krise dem Klimaschutz nicht hilft und wie Seuchen soziale Konflikte erhellen, die ansonsten im Dunkeln bleiben.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Die Lieferkette digital, die Produktion lokal: So könnte die Weltwirtschaft krisenfest werden

piqer:
IE9 Magazin

Die Industriebetriebe in Europa fahren ihre Produktion herunter. Nicht nur, weil Teile ihrer Belegschaft wegen der Corona-Pandemie in Quarantäne müssen oder aus Sicherheitsgründen im Homeoffice bleiben sollen. Sondern auch, weil die globalen Lieferketten nicht mehr funktionieren. Es fehlen einzelne Bauteile aus China, wo das Virus zuerst die Gesellschaft lahmlegte. Oder Lieferungen bleiben in den Staus stecken, die sich an den innereuropäischen Grenzen wieder bilden.

Die Pandemie zeigt, wie fragil die global vernetzte Wirtschaft ist. Sie könnte das Ende der Globalisierung, die wir kennen, einläuten. Das heißt aber nicht, dass wir in eine neue Ära der Abschottung steuern müssen. Denn mithilfe neuer Technologien kann die Weltwirtschaft vernetzt und global bleiben – und dennoch besser gerüstet sein, um die Klimakrise oder künftige Pandemien zu bestehen. Wie? Wenn physische Produkte digital werden.

Digitale Physische Produkte

Der Unternehmer und Gründer Lin Kayser, CEO des Münchner Unternehmens Hyperganic, erklärt im 1E9-Interview, wie die Welt von einer Umstellung auf Digitale Physische Produkte profitieren könnte.

Das sind Produkte, die weitgehend digital existieren, bevor sie schließlich physisch hergestellt werden. Während ihrer digitalen Phase können sie wie rein digitale Produkte gehandelt werden, können sich an Problemstellungen anpassen und so weiter. Erst ganz am Ende werden sie physisch in einem standardisierten Verfahren gefertigt.

Das Internet und neue Algorithmen sollen es ermöglichen, auch materielle Produkte komplett digital zu konstruieren. Zulieferbetriebe können weiterhin um den ganzen Globus verteilt sein, weil nicht mehr das physisch gelieferte Produkt bezahlt wird, sondern der Algorithmus, der für das finale Produkt gebraucht wird.

Durch die algorithmische Abstimmung von Komponenten aufeinander, den Handshake , können Produkte in globaler Kooperation optimiert werden. Gute Lösungen können sich schneller durchsetzen, weil es nur noch eine Frage davon ist, dass man sich handelseinig wird. Die Konstruktion von hochkomplexen Bauteilen und letztlich ganzen Maschinen wird in so einem System fast vollständig automatisiert und verwendet immer die optimalen Lösungsansätze. Ingenieurinnen und Ingenieure fokussieren sich darauf, diese Lösungen digital weiterzuentwickeln. Die globale Lieferkette wird komplett digital, die Fertigung wird lokal.

Die lokale Fertigung wird ermöglicht durch industrielle 3D-Drucker, die in den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte gemacht haben. Dadurch werden lange Transportwege und damit verbundene CO2-Emissionen vermieden. In Krisenzeiten kann die Produktion außerdem schnell auf akut benötigte Produkte umgestellt werden.

Wie erhellen Seuchen soziale Konflikte, die sonst im Dunkeln bleiben?

piqer:
Achim Engelberg

Das Corona-Virus verschafft den Privilegierten dieser Welt eine Ahnung davon, wie sich tägliche Stigmatisierung anfühlt.

Diese These diskutiert der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Branko Milanovic, der sich immer wieder mit Migrationen auseinandersetzt.

Das gilt vor allem für Europäerinnen und Europäer, die sich seit dem Schengener Abkommen daran gewöhnt haben, ohne Pass oder höchstens mal mit einem Visum von Land zu Land zu reisen und (dank ihres hohen Einkommens) mit offenen Armen empfangen zu werden. … Wer auf Reisen jahrelang so gut wie keine Einschränkungen erlebt, hält das für normal und erwartet, dass es immer so weitergeht. Man verschwendet kaum einen Gedanken an die anderen und betrachtet deren Reisebeschränkungen als bedauerliches, aber leider unausweichliches Schicksal.

Schon immer erhellten Seuchen, Epidemien und andere extreme Ereignisse soziale Konflikte, die die Wohlhabenden ahnen, aber über die sie nicht Nachdenken wollen. So war es schon während der Pest im 14. Jahrhundert, die der Autor nur streift.

Rückblende: Hier gibt es einen konzentrierten Überblick über diese umstürzende Katastrophe. Da damals Krankheiten als Strafen Gottes galten, wollten sich die Reichen freikaufen, der Ablasshandel der Kirche blühte.

Mithilfe von Ablässen konnten sich die Menschen für eine bestimmte Zeit von ihren Sünden und somit auch vom reinigenden Prozess des Fegefeuers freikaufen.

Venedig, eine damalige Weltmacht des Schiffsverkehr, erkannte als erste Zusammenhänge von Handel und Auswanderung, von Flucht und Seuchen:

Reisende, die aus verpesteten Städten kamen, standen zunächst für 40 Tage unter Beobachtung. Für diese Zeit mussten sie auf der Insel Lazzaretto Nuovo in der Lagune von Venedig bleiben. Aus dieser Zeitspanne der Isolation entstand der Begriff „Quarantäne“, denn „quaranta“ ist das italienische Wort für 40.

Zurück zur Gegenwart:

Für viele Italiener oder für US-Amerikaner, die aus Italien zurückkehrten, war es ein Schock, dass sie eine „statistische Diskriminierung“ erlebten, die sie bei People of Color oft gleichgültig hinnehmen.

Der in Belgrad geborene Branko Milanović, der im sozialistischen Jugoslawien promovierte, weiß aus eigenen Erlebnissen, worüber er spricht.

Das Virus schuf einen Ausgleich und gab einigen von uns Anlass, einmal darüber nachzudenken, ob es eigentlich eine berechtigte Maßnahme ist, auf der Basis statistischer Informationen über Gruppen einzelne Menschen ins Visier zu nehmen. …

Die „statistische Diskriminierung“ ist meines Erachtens derzeit fast unvermeidbar. …

Trotzdem sollten wir die moralische Rechtfertigung solcher Maßnahmen hinterfragen und darüber nachdenken, ob sie nicht dem Individuum die Verantwortung für eine ganze Gruppe übertragen oder gar einzelnen Gruppen implizit eine kollektive Schuld zuschreiben.

Hoffen wir, dass das Corona-Virus nicht so viele Menschen tötet wie der Schwarze Tod der Pest im 14. Jahrhundert, aber uns ähnliche Auswege zeigt wie dieser für die Nordeuropäer.

Branko Milanović dazu:

In Nordeuropa …, wo die feudalen Institutionen nicht so stark waren (im Vergleich zu Südeuropa, A. E.), gewannen die Arbeiter nach dem Schwarzen Tod an Freiheit, und ihre Arbeitskraft wurde teurer. Das war die Grundlage für technischen Fortschritt und später für die industrielle Revolution.

Europa nach der Krise – mehr Staat, mehr Nation?

piqer:
Thomas Wahl

Die Zukunft ist offen, auch nach der Viruskrise. Aber Ivan Krastev prognostiziert schon mal sieben Trends für die Zeit danach.

Erstens wird vermutlich Big Government zurückkommen:

Die Bürgerinnen und Bürger verlassen sich auf die Regierungen, dass sie die kollektive Abwehr der Pandemie organisieren und dass sie die Wirtschaft retten.

Wobei das nicht ohne aktive und innovative Beteiligung des Volkes und der Unternehmen möglich sein wird.

Zweitens wird Corona die Rolle der Nationen in der Union stärken. Hoffentlich nicht den egoistischen Nationalismus.

Um zu überleben, wird der Staat von den Bürgern verlangen, Mauern zu errichten – nicht nur zwischen den Ländern, sondern auch zwischen Individuen, weil die Gefahr der Ansteckung von den Menschen kommt, die man am häufigsten trifft.

Das wären allerdings keine guten Aussichten. Hoffen wir also, dass, wie etwa nach der großen Pest im Mittelalter, Lebensfreude und Zukunftslust zurückkommen. Eine moderne „Renaissance“ wäre mein Wunschtraum.

Drittens könnte sich das Vertrauen in Experten und Fachwissen verstärken. Dumm nur, wenn sich diese nicht einig sind.

Viertens wird eventuell und „bedauerlicherweise die Attraktivität von auf Big Data basierendem Autoritarismus“ zunehmen. Das Modell China gewinnt an Einfluss.

Fünftens wird Panik (die Regierungen sonst immer zu verhindern suchten) „vom Feind zum Freund“, zum Instrument der Krisenbewältigung und danach.

Der Erfolg von Regierungen hängt sehr entscheidend davon ab, ob es ihnen gelingt, den Leuten ausreichend Angst zu machen … Keine Panik, das wäre die falsche Antwort auf die Covid-19-Krise. Um die Pandemie zu verlangsamen, sollten die Leute Angst haben – und ihren Lebensstil radikal ändern.

Das sollten wir nicht auf Dauer stellen, für Politiker allerdings ist dies sicher eine verlockende Methode.

Sechstens dreht sich der Generationskonflikt um. Im Klimastreit werfen junge Leute der älteren Generation vor, ihren Lebensstil nicht radikal genug ändern zu wollen. Jetzt ist es umgekehrt,

die älteren Mitglieder der Gesellschaft (sind) viel verletzlicher und fühlen sich bedroht von der offensichtlichen Unwilligkeit der Millenials, ihren Lebensstil zu ändern.

Siebtens laufen wir in eine sehr unschöne und unübersichtliche  Entscheidungssituation hinein – Menschen oder Wirtschaft retten? Wobei eine zusammenbrechende Ökonomie letztendlich auch das Retten von Bürgern unmöglich machen würde.

Zusammenfassend kann man sagen:

Die Covid-19-Krise wird auf jeden Fall gründlich verändern, wie die EU auf andere Krisen reagiert, die sie in den vergangenen zehn Jahren erlebt hat. Haushaltsdisziplin ist nicht einmal mehr in Berlin das ökonomische Mantra. Und es gibt derzeit auch keine europäische Regierung mehr, die sich für die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge einsetzt.

Die Europäische Union wird auf jeden Fall stark verändert aus der dramatischen Situation herauskommen. Auch wenn sie nicht verschwinden wird, wir müssen lernen.

Folgt die De-Globalisierung? Was durch die Corona-Krise alles in Frage steht

piqer:
Paulina Fröhlich

Wie ein Scheinwerfer beleuchtet die Corona-Krise also die geopolitischen, wirtschaftlichen, ideologischen und kulturellen Bruchstellen unserer Zeit.

…und der Text von Marc Saxer folgt diesem Scheinwerfer.

  • Führt die Corona-Krise zu einer globalen Finanzkrise? Was bringt die Mischung von global gekappten Handelsketten und hitzigen Preiskriegen im Rohstoffmarkt mit sich? Endet der Ölpreiskrieg mit dem Ende von Ölförderung?
  • Welche Staaten bestehen die Prüfung ihrer Krisenmanagement-Fähigkeit? Werden Populisten an der Regierung ‚entzaubert‘, werden als ‚lasch‘ empfundene Führungsstile abgestraft?
  • Wieso beobachten wir bei einer grenzübergreifender Pandemie, nationale Alleingänge? Kann sich Europa spalten lassen, indem die ersten Hilfsgüter von außerhalb kommen, statt von den EU-Staaten (Italien + Tschechien & China)?
  • Bleibt die Produktionsabhängigkeit für Europa und die USA von China nach der Krise dieselbe oder eröffnen neue Produktionsstätten in Osteuropa und Mexiko? Folgt, unter Druck der US-Amerikaner, die Entscheidung, ohne Huawei das 5G-Netz zu bauen?
  • Hilft uns die erlebte Erfahrung der Entschleunigung im Kampf gegen den Klimawandel? Wird es nach der Krise mehr Verständnis und Möglichkeiten für familienfreundliches Arbeiten geben?
  • Folgen radikale Automatisierungsschritte in der Produktion, die massenhaft Arbeitsplätze auf einmal gefährden? Wie dienen Schlagbäume und Kontrollen den Nationalisten in ihrer Abgrenzung gegenüber Ausländern?
  • Sollten, wie in Spanien, die Krankenhäuser wieder verstaatlicht werden? Lässt sich die Austeritätspolitik, wie nach der Finanzkrise 2008, dieses Mal zum Wohle von Investitionen z. B. in das Gesundheitswesen, verhindern?

Ich könnte die Reihe an Fragen und Zusammenhängen aus Marc Saxers Text noch lange fortführen, ende jedoch hier. Zu mir spricht eine Mischung aus: Es wird sich vieles ändern und es kann sich vieles ändern. Die Chance, das Gewollte einzufordern, ist jetzt.

Die Krise hat den Bürgerinnen und Bürgern drastisch vor Augen geführt, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Nie war der Wunsch nach einer grundsätzlichen Reorganisation unseres Wirtschaftens und Zusammenlebens größer. Zugleich müssen existentielle Gefahren abgewehrt werden, ohne Demokratie und Freiheitsrechte unverhältnismäßig einzuschränken.“

Corona wirft den Klimaschutz weit zurück

piqer:
Ralph Diermann

Eine seltsame Argumentation macht bei Twitter und anderswo die Runde (ich habe keine Lust, den Mist hier zu verlinken): Corona habe auch etwas Gutes, weil damit deutlich werde, dass radikaler Klimaschutz möglich ist. Das ist nicht nur unangenehm zynisch angesichts all des Leides, das Corona mit sich bringt – sondern auch schlichtweg falsch, wie Susanne Götze für den Spiegel zusammenfasst.

Sie führt kursorisch eine ganze Reihe von Gründen dafür auf, dass die Pandemie den Klimaschutz weit zurückwirft. Um nur drei ihrer Argumente zu nennen:

  • In einer Wirtschaftskrise fehlen Mittel für Investitionen in Energieeffizienz und Klimaschutz.
  • Der Preis der CO2-Emissionszertifikate ist eingebrochen, was Investitionen in Energieeffizienz und Klimaschutz unattraktiver macht.
  • Staatshilfen ohne Umweltauflagen setzen Anreize für Investitionen in CO2-intensive Technologie.

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Wie das Corona-Virus die Welt eroberte

piqer:
Dirk Liesemer

Ein anschauliches Stück der New York Times, das eindrucksvoll zeigt, wie sehr Homo sapiens in ameisenhaften Trassen auf diesem Planeten unterwegs ist – und dabei das Corona-Virus vom Osten Chinas aus in weite Teile der Welt verbreitet hat. Als endlich Reisebeschränkungen erfolgten, war es bereits zu spät: Das Virus hatte schon Brückenköpfe auf anderen Kontinenten erobert und konnte sich dadurch zu einer Pandemie auswachsen. Erstaunlich bleibt gleichwohl, wie es unter anderem China und Südkorea gelingen konnte, die Ausbreitung zu begrenzen und das Virus nun in Schach zu halten. Auch wenn sich das alles erklären lässt: Wenn man sich dieses Stück anschaut, wundert man sich trotzdem.

Wie stark sollte der Staat sein?

piqer:
Hauke Friederichs

Die Bewegungsfreiheit der Bürger wird inzwischen bundesweit fast bis zum Äußersten eingeschränkt: Weitgehende Ausgangsverbote sollen soziale Kontakte in der Corona-Krise einschränken. Der Staat greift hart in das Leben aller Menschen in Deutschland ein – um sie zu schützen. Doch wie weit dürfen Grundrechte beschnitten werden, bis die Demokratie gefährdet ist?

Gero von Randow aus dem Politik-Ressort der ZEIT beschreibt die Gefahren eines entfesselten Staaten – aber auch die Notwendigkeit eines entschiedenen Krisenmanagements der Regierung.

„Das Wort vom Ausnahmezustand geht um“, schreibt Randow. „Man sollte den Begriff allerdings nicht gedankenlos benutzen, das Wort hat es in sich. Denn wenn Staatstheoretiker vom Ausnahmezustand reden, meinen sie etwas anderes: den entfesselten Staat. Das Gewaltmonopol, das an keine Gesetze mehr gebunden ist, bis auf das eine: Der Zustand muss Ausnahme bleiben.“

Allerdings besteht ein schwerwiegendes Problem: Im entfesselten Staat gibt es niemanden mehr, der die Rückkehr zum Normalzustand erzwingen kann. Die in der Demokratie nötigen Kontroll- und Überwachungsinstanzen, die Regierungshandeln überwachen, sind schwach oder nicht mehr vorhanden.

Davon seien wir in der Bundesrepublik weit entfernt, schreibt Randow. Dennoch teste der Staat, in Gestalt der Bundesregierung, momentan den Sitz seiner Fesseln. Die Rechte der Polizei werden ausgeweitet. Und die föderalistisch getrennten Zuständigkeiten zwischen Regierungen in der Hauptstadt und in den Ländern könnten im Falle der Seuchenbekämpfung noch stärker auf der Bundesebene konzentriert werden.

„Die Coronakrise bringt Dinge in Bewegung, die unverrückbar schienen, selbst allgemeine Ausgangsbeschränkungen werden juristisch gerechtfertigt – nicht zwingend, aber doch in einer Weise, die im juristischen Jargon ‚vertretbar‘ heißt, also nicht ‚abwegig‘ ist“, schreibt Randow.

Der Staat zeigt, dass er das Gewaltmonopol innehat. Das passiert unter anderem, um Schäden von der Allgemeinheit abzuwenden.

„Dass der Staat ein Rechtsstaat bleibt, wird nur durch Menschen und nicht durch höhere Mächte garantiert“, stellt Randow fest. „Und genau deshalb muss man in schweren Krisen, also jetzt, hellhörig werden. Die Anerkennung der Dringlichkeit staatlichen Handelns darf nicht begleitet werden von der vor-kantischen Idee vom Zweck, der die Mittel heilige.“

„Die Welt wird eine andere sein“: Yuval Noah Harari über die Folgen der Pandemie

piqer:
Fabian Peltsch

In seinem Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ beschreibt der israelische Historiker Yuval Noah Harari die großen Einflussfaktoren menschlicher Entwicklung, von der „kognitiven Revolution“, die komplexe Kulturen ermöglichte, bis zur „wissenschaftlichen Revolution“, die uns den Traum von ewigem Wachstum bescherte. Eine seiner Kernthesen ist dabei, dass der Mensch seinen Siegeszug als Spezies nicht in erster Linie seiner Intelligenz zu verdanken hat, sondern seiner Fähigkeit, in großen Zahlen und über große Entfernungen hinweg zu kooperieren. Dass die Coronavirus-Krise uns als „social animals“ vor große Herausforderungen stellt, erläutert er nun in einem Artikel in der Financial Times und in einem 16-minütigen Interview auf CNN.

Was ihm derzeit am meisten Sorgen bereitet, sei dann auch der Mangel an internationaler Zusammenarbeit und gegenseitigem Vertrauen, so Harari. Auch gäbe es im Gegensatz zu früheren Krisen keine Nation mehr, die eine verantwortungsvolle Führungsrolle auf der Weltbühne einnehmen wolle. 

The current US administration has abdicated the job of leader. It has made it very clear that it cares about the greatness of America far more than about the future of humanity. 

Dabei sei globale Zusammenarbeit nun wichtiger denn je. Besonders die EU habe jetzt die Chance, ihre Werte und Prinzipien unter Beweis zu stellen. Das Virus könnte aber genauso gut das Ende der europäischen Gemeinschaft einläuten, wie wir sie kennen.

Die Welt nach dem Virus wird eine andere sein, folgert Harari. Im schlimmsten Fall eine mit mehr Überwachung und mehr Autoritarismus:

In this time of crisis, we face two particularly important choices. The first is between totalitarian surveillance and citizen empowerment. The second is between nationalist isolation and global solidarity.

Wie definiert man „Populismus“?

piqer:
Emily Schultheis

Der Begriff „Populismus“ ist seit Jahren, besonders seit dem Brexit und dem Aufstieg von Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD), überall in den Schlagzeilen. Solche neuen bzw. stärker werdenden Kräfte — ob links oder rechts, ob in Deutschland, Frankreich, Ungarn oder den USA — wurden und werden in den Medien und in der Gesellschaft häufig diskutiert.

Es gibt aber keine genaue Definition für den Begriff „Populismus“: Heutzutage wird er häufig mit rechten Parteien wie der AfD verbunden, aber er kann auch linke Parteien umfassen. In diesem Artikel geht es um die Entwicklung des Begriffs „Populismus“: Woher kommt er und warum ist es so schwierig, ihn zu definieren? Viele Wissenschaftler behaupten, dass Populismus keine Ideologie ist, sondern ein politischer Stil. Dieser Stil und dessen Anti-Elite-Rhetorik kann im Zusammenhang von ganz verschiedenen Ideologien verwendet werden.

Problematisch ist, dass der Begriff „Populismus“ — und auch „Nationalismus“, wie die Autorin schreibt — seinen Wert verliert, wenn er nur als allgemeine Beleidigung verwendet wird. Wenn alles, was uns nicht gefällt, einfach Populismus oder Nationalismus genannt wird, dann helfen diese Begriffe nicht, solche Parteien und Kräfte einzuordnen. Die Politikwissenschaftlerin Daphne Halikiopoulou sagte der Autorin des Artikels: „Wenn jeder auf die eine oder andere Weise Populist ist, dann ist niemand kein Populist. Es erklärt absolut alles und deshalb nichts.“