Fremde Federn

Chinas Trojanische Pferde, Europas „Wanderarbeiter“, Identitätspolitik

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie sich China selbst aus der globalen Wertschöpfungskette schießt, weshalb sich eine Suchmaschine dem Kapitalismus entzieht und warum die kommenden Jahre die vermutlich wichtigsten in der Menschheitsgeschichte sind.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

China schießt sich selbst aus der globalen Wertschöpfungskette

piqer:
Georg Wallwitz

Bloomberg wartet mit einer Geschichte auf, die viele Verzweigungen hat. Es geht darum, dass chinesische Firmen auf Computer-Hardware, die in alle Welt geliefert wird, einen reiskorngroßen Chip platziert haben, der offensichtlich Spionage- oder Sabotagezwecken dient.

Das ist eine Katastrophe für die globale Wertschöpfungskette, die auf dem Vertrauen basiert, dass man aus fremden Ländern gute Produkte bezieht und nicht Trojanische Pferde. Es ist Wasser auf den Mühlen der China-Feinde im Weißen Haus, die immer schon gewusst haben, dass China finstere Absichten hegt.

Wenn dieses internationale Vertrauen schwindet, bedeutet dies, dass China bald wieder nur noch Socken exportieren kann. Wer möchte einen Computer haben, bei dem die KPC auch physisch mit auf dem Motherboard sitzt? Wer will ein Auto kaufen, das aus der Parteizentrale in China gesteuert werden kann? China könnte zu einem isolierten Block werden, dessen Hochtechnologie nur noch haben möchte, wer dazu (durch Waffengewalt?) gezwungen wird.

Keine schönen Aussichten, in keiner Hinsicht, für niemanden.

Die „Wanderarbeiter“ Europas – Das schmutzige Geschäft mit den Fernfahrern

piqer:
Simone Brunner

Haben Sie sich schon mal gewundert, warum auf den europäischen Autobahnen so viele LKWs mit polnischen Kennzeichen unterwegs sind? Ich habe mich das zumindest unlängst tatsächlich mal gefragt. Wie das System der Fernfahrer in Europa funktioniert, haben Reporter von „Investigate Europe„, ein Reporterteam aus acht unterschiedlichen Ländern, die gemeinsam an grenzüberschreitenden europäischen Themen arbeiten, recherchiert. Sie haben für ihre aufwändige Recherche alle Akteure dieses Systems befragt, von den Verantwortlichen in den Speditionen, Unternehmen und Behörden – bis hin zu mehr als 100 LKW-Fahrern aus 14 Ländern:

Sie führen ein einsames Leben auf der Autobahn und sind zugleich das logistische Rückgrat der europäischen Ökonomie mit ihren Lieferketten über die Grenzen hinweg. Ohne sie würde kein Auto gebaut, blieben die Supermärkte leer und die Fabriken stünden still. Doch beim Umgang mit seinen motorisierten Lastenträgern zeigt sich Europa von seiner schlechtesten Seite.

In ihrem Artikel für den Tagesspiegel beschreiben sie ein erschreckendes, pan-europäisches System aus Ausbeutung, ausgehend von in Polen registrierten Logistikunternehmen, die Fahrer noch weiter im Osten, jenseits der EU-Außengrenze – wie etwa der Ukraine, Belarus oder Moldawien – für ihre Fuhren anheuern. Sie sind die „Wanderarbeiter“ Europas, die schäbig bezahlt werden und denen ihre Rechte innerhalb der EU verwehrt werden. Ein System, von dem in erster Linie westliche Unternehmen, wie etwa große westliche Automobilkonzerne, profitieren.

Eine große und wichtige Recherche!

„Aber nicht die Flüchtlinge machen das Problem, sie machen es bewusst“ (Volker Braun)

piqer:
Achim Engelberg

So heißt es in der bemerkenswerten Kamenzer Lessing-Rede und der sächsische Dichter fährt fort:

Es sind die Steuerflüchtlinge und Renditeschlepper, wegelagernden Lobbys, das vagabundierende Kapital. Nicht der Zuzug zertrampelt das Land, sondern der Geschäftsgang. Deutschland, wo nur jeder Zweite noch tariflichen Schutz genießt, und ganze Firmen fürchten verkauft zu werden, setzt sich selbst herab. Auch verödete Dörfer sind gewissermaßen ’national befreite Zonen‘. Diese schöne Erde … Wer zerstört sie? Die Verwüstungen richten wir selber an, die Zersiedlung, Vernutzung, Devastierung der Fluren. Und die Unsicherheit und Armut sind von hier, sie wandern nicht ein. Sie haben die Staatsbürgerschaft. Und nicht Selbstbegrenzung und -beschränkung werden Ungleichheit und Unrecht überwinden.

Das Flüchtlings- und Emigrationsmotiv taucht früh bei Braun auf, der aufgrund seiner in Westeuropa verlegten Bücher dorthin reisen konnte. So notiert er bereits 1979 im Werktagebuch aus Frankreich:

…der soziale wohnungsbau kann der zuwanderer nicht herr werden, sie kommen in familien und halben stämmen, 30 % der beschäftigten sind gastarbeiter; sie sperren sich in ihre kanister-städte ohne hoffnung auf integration.

In seiner Büchnerpreisrede, „Die Verhältnisse zerbrechen“, heißt es im Herbst 2000:

Was hat sie für eine Gewalt, wenn sie andere, riesige Menschenzüge auf den Kontinenten zeugt, Gespensterzüge von Verlorenen im SCHRANKENLOSEN, „Flüchtlinge“, sagt der Personenzettel. Ist unser Elend die Form, nicht anteilzunehmen am Hunger der Welt. … Der Abbruch der Alternativen zur bürgerlichen Gesellschaft im Augenblick, da diese selbst verschwindet, bewirkt die Spannung, das Drama, den kopflosen Kampf unserer gegenwärtigen Aufführung.

In dieser Tradition steht die Kamenzer Rede:

Die große Völkermischung, der Verlust einer vermeintlichen Identität wird der weltumgreifende Konflikt, das Abenteuer der Gattung im 3. Jahrtausend. Die Katastrophen sind vorgezeichnet, die Rettungen sind zu erfinden.

Was kommt? „Die wichtigsten Jahre der Menschheitsgeschichte“

piqer:
Nick Reimer

Er gilt als wichtigster Bericht der Wissenschaft in diesem Jahr: Unter der Abkürzung ‚SR1.5‘ wird die Arbeit von 91 Leitautoren des Weltklimarates IPCC in die Menschheitsgeschichte eingehen – ‚Special Report on 1.5 Degrees‘.

Es geht um die Frage, ob die Erderwärmung noch auf 1,5 Grad begrenzt werden kann. Also um die Frage, ob das Paris-Abkommen nicht schon Makulatur ist, bevor es 2020 überhaupt in Kraft tritt. Denn im neuen 2015 geschlossenen Weltklimavertrag heißt es, es sollten

‚Anstrengungen unternommen werden, um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen.‘

‚Jede weitere Erwärmung, besonders über 1,5 Grad hinaus, vergrößert die Gefahr lang anhaltender oder nicht mehr umkehrbarer Veränderungen wie etwa dem Verlust von Ökosystemen‘, sagte der Kieler Klimaforscher Hans-Otto Pörtner, der an dem IPCC-Bericht mitgearbeitet hat. Pörtner und die anderen Autoren fordern deshalb ein radikales Umdenken, vor allem im Energiesektor, bei Verkehr und Landwirtschaft. Deshalb müsste der Ausstoß des klimaschädlichen Kohlendioxids bis 2030 um 45 Prozent gegenüber dem Wert von 2010 reduziert werden. Zur Jahrhundertmitte müsse der Ausstoß dann bei null liegen. Die Kosten allein für den dafür notwendigen Umbau des Energiesektors beziffert der IPCC bis 2035 auf etwa 2,1 Billionen Euro. Die IPCC-Wissenschaftlerin Debra Roberts warnt:

‚Die kommenden Jahre sind vermutlich die wichtigsten in der Menschheitsgeschichte.‘

Die gute Nachricht ist: Wir können es noch schaffen. Der IPCC sagt, das Erreichen des 1,5-Grad-Ziels sei ‚technisch und wirtschaftlich möglich.‘ Und die Experten liefern uns dazu vier Szenarien mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten.

Die schlechte Nachricht: Das aktuelle Leben ist vorbei. Wir müssen unseren Lebensstil ändern, wenn nicht eintreffen soll, was die Wissenschaft als verheerend bezeichnet. Kohleausstieg, Tempolimit, Fleischverzicht, Verkehrswende: Hier dazu ein Kommentar aus meiner Feder.

Historisches Urteil für den Klimaschutz

piqer:
Daniela Becker

In den Niederlanden wurde gestern ein historisches Urteil gefällt.

Der Klimawandel stelle eine konkrete Bedrohung dar, sagte die Vorsitzende Richterin Marie Anne Tan-de Sonnaville. „Der Staat ist verpflichtet, dagegen Schutz zu bieten.“ Das Gericht skizzierte die hohen Risiken für die Niederlande wie Überflutungen, Krankheiten, Dürre, Waldbrände, Mangel an Trinkwasser und Schäden des Ökosystems. Bis Ende 2020 müssen die Niederlande nun nach dem Urteil den CO2-Ausstoß um mindestens 25 Prozent reduzieren im Vergleich zu den Werten von 1990. 2017 war der totale Ausstoß der Treibhausgase erst um 13 Prozent geringer als 1990.

Vielleicht ist 2018 tatsächlich das Wendejahr in der Klimadiskussion. Zu offensichtlich sind inzwischen die häufiger werdenden Wetterextreme, immer drastischer werden die Warnungen der Klimaforscher und immer größer wird der Unmut einer breiten Bevölkerungsschicht, dass die Politik diese Gefahren nicht anerkennt. Ganz passend haben in dieser Woche die beiden Ökonomen William Nordhaus und Paul Romer den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Nordhaus und Romer hätten den Umfang der ökonomischen Analyse erheblich erweitert, indem sie Modelle entwickelten, die das Zusammenspiel der Marktwirtschaft mit Natur und Wissen erklärten, begründete das Komitee die Auszeichnung.

In Deutschland beschäftigen sich Gerichte gerade eher noch mit halbherzigen Fahrverboten, andererseits läuft in Bayern (!) gerade ein vielversprechendes Bürgerbegehren an, um Klimaschutz in die Verfassung zu schreiben. Aufbruchsstimmung also?

Ich schwanke zwischen Euphorie und Pessimismus, denn der Kampf um Klimaschutz ist oft ein Schritt nach vorne und dann wieder zehn zurück. Das Wirtschaftsministerium in den Niederlanden erklärte zwar, es wolle das Urteil ausführen, schließt aber eine Revision auch nicht aus. So geschehen ist es leider auch in Österreich, wo ein Gericht in zweiter Instanz leider das Ausbau-Verbot des Flughafen Wiens wieder kassiert hat.

Die Suchmaschine Ecosia entzieht sich dem Kapitalismus

piqer:
Marc Winkelmann

Der Gründer der Suchmaschine Ecosia.org Christian Kroll ist schon immer einen anderen Weg als den klassischen gegangen. Statt seine Gewinne zu maximieren, finanziert er mit seinen Werbeeinnahmen das Pflanzen von Bäumen gegen den Klimawandel; knapp 40 Millionen sind bereits zusammengekommen. Statt ein großes Geheimnis aus seinen Zahlen zu machen, legt er seine Einnahmen und Ausgaben Monat für Monat offen (hier: Juli 2018). Und statt Gemeinnützigkeit bloß zu behaupten, lässt er sich als sogenannte „B Corporation“ zertifizieren, eine Art moderne gGmbH.

Das reichte Kroll aber nicht. Er wollte die zwei Versprechen, die er sich beim Start 2009 gegeben hatte, verbindlich absichern. Sie lauteten: Er würde seine Firma niemals verkaufen – und er würde nie Gewinne abziehen. Ecosia soll, so sein Wunsch, gewissermaßen auf Ewigkeit einen Beitrag zu einer besseren, nachhaltigeren Welt leisten. Und nicht Gefahr laufen, durch Finanzinteressen (etwa von Spekulanten) vom Weg abzukommen.

Um das zu garantieren, hat er mit seinem Partner Tim Schumacher deshalb einen radikalen Wandel vollzogen. Aus ihrer Ecosia GmbH ist jetzt – mit Hilfe einer Stiftung – ein unverkäufliches Unternehmen geworden. Die Folge: „Aktien dürfen nicht gewinnbringend verkauft oder von Personen außerhalb des Unternehmens gehalten werden“, wie Schumacher erklärt. „Und zweitens: Es können keine Gewinne aus dem Unternehmen entnommen werden.“ „Verantwortungseigentum“ nennen sie das.

Damit haben sie Ecosia „dem Kapitalismus entzogen“, wie Christian Kroll gegenüber „Business Punk“ in einem Interview formulierte (Paid-Link via Blendle) – was immerhin bedeutet, dass er – bei einem möglichen Verkauf – auf viel Geld verzichtet; die Firma habe einen Wert von einem, so sagt er, „dreistelligen Millionenbetrag“. Als verloren betrachten Schumacher und Kroll ihr Investment allerdings nicht. Schließlich gehe es um mehr als Business.

PODCAST: Warum der Gegensatz Identitätspolitik vs. Arbeiterpolitik nicht wichtig sein könnte

piqer:
Rico Grimm

Irgendwann in diesem Gespräch zwischen dem Gründer der Nachrichten-Seite Vox.com und dem Politikwissenschaftler Francis Fukuyama fällt ein bemerkenswerter Satz: „Auch die Mächtigen machen Identitätspolitik, wir merken es nur nicht, weil sie eben schon ganz oben sind.“

Nach der Wahl von Donald Trump gab es die Debatte, ob die Linken mit ihrem Fokus auf Identitätspolitik und auf die Rechte von Minderheiten die weiße Arbeiterklasse und damit auch die Wahl verloren hätten. In dieser Debatte wurde das als Entweder-oder-Entscheidung dargestellt. Ich konnte mir jahrelang keinen richtigen Reim darauf machen, da ich einerseits – durch meine Recherchen zu Armut und Klassismus – sehe, wie entscheidend wirtschaftliche Benachteiligung sein kann, und es andererseits sehr deutlich ist, dass die autoritäre Rechte einen Kulturkampf führt, der auf den ersten Blick nichts mit dem ökonomischen Status zu tun hat.

In diesem Gespräch nun wird dieser Gegensatz aufgelöst: Erstens, es gibt Überlappungen. Man kann den wirtschaftlichen Abstieg fürchten und rassistisch, also diskriminiert und diskriminierend, sein. Deswegen zweitens: Wir müssen die Begriffe des 20. Jahrhunderts in der Schublade lassen. Der „Klassenkampf“ ist vorbei, aber der Kampf gegen die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft hat gerade erst begonnen.

Wenn ihr den Podcast gehört habt, würden mich eure Gedanken interessieren. Hier steckt etwas Wichtiges drin.

Die Medien, ihre Sicht auf Wirtschaft und Gesellschaft und was daraus folgt

piqer:
Thomas Wahl

Auch dieser Artikel nimmt u.a. Bezug auf die jüngst erschienenen Bücher von Rosling und Pinkert, die nachweisen, dass wir eigentlich in einer gegenüber der Vergangenheit sozial und wirtschaftlich viel besseren Welt leben. Aber der Autor geht dann der Frage nach, woher es kommt, dass die meisten von uns eher das Gegenteil glauben und welche Rolle die Medien dabei spielen. Er analysiert dies insbesondere für Deutschland, wo „der Graben zwischen gemessener und gefühlter Realität besonders breit“ ist.

Das Land erlebt ein kleines Wirtschaftswunder, die Arbeitslosigkeit ist historisch niedrig, das Bildungsniveau höher denn je. Weltweit werden wir beneidet: für unser Gesundheitssystem, unsere Theater und Orchester oder unsere meist funktionierende Bürokratie und Infrastruktur. Die Bürger sehen Deutschland insgesamt als Krisenfall.

Als Ursache wird zum einen der sogenannte „Negativitätsbias“ angenommen, dem zu folge wir Schlechtes per se stärker wahrnehmen als Positives, eine Folge der Evolution – Angst vor der Gefahr macht innovativ. Dazu kommt der „Verfügbarkeitsbias“:

Was wir öfter wahrnehmen, war über die längste Zeit der Menschheitsgeschichte auch öfter passiert. Mit dem Aufkommen der Medien ist das anders geworden. Nun bestimmen sie, was wir über unsere Gesellschaft und die Welt wissen, in der wir leben.

Und Journalisten unterliegen natürlich auch genau diesen Verzerrungen, verstärkt durch den Effekt, dass sich negative Nachrichten besser verbreiten und verkaufen lassen. Diese Einflüsse lassen sich laut Artikel auch empirisch nachweisen. In einer kritischen Analyse kam die NYT daher zu der These:

Der Journalismus hat mitgeholfen, Trump den Boden zu bereiten, indem er sich über Jahrzehnte auf „Probleme und scheinbar unheilbare Pathologien“ von Politik und Gesellschaft konzentriert hat. Dieser Katastrophenmodus der Berichterstattung hat das Vertrauen in die Institutionen zersetzt. Trump musste auf diese Negativwelle nur aufspringen.

Danke für diese Selbstkritik.

Wie sich das Ende der Volkspartei CSU seit Langem ankündigt

piqer:
Dirk Liesemer

In gut einer Woche sind Landtagswahlen in Bayern. Für die CSU sieht es derweil schlecht aus, genauer: Es sieht katastrophal aus. Einer aktuellen Umfrage zufolge liegt die Partei bei historisch niedrigen 33 Prozent. Ministerpräsident Markus Söder macht dafür die Große Koalition in Berlin verantwortlich, womit er nicht gänzlich Unrecht haben dürfte. Aber auch seine eigene Eitelkeit wird eine Rolle spielen. Doch es gibt zudem langfristige Trends, die in diesem gepiqten Stück genauer aufgedröselt werden: Alte Milieus zerfallen, Bindungen an die Kirche lassen nach, mehr Menschen leben in den Städten, weniger auf dem Land, zudem ändern sich tradierte Wertorientierungen und neue, CSU-kritische Milieus sind entstanden. Insgesamt ist der Süddeutschen ein guter Überblick gelungen, der einmal den Fokus vom tagespolitischen Hickhack nimmt.

Frankfurt (Oder) bricht mit Klischees: Ein linker Bürgermeister will kriminelle Syrer abschieben

piqer:
Simon Hurtz

In den Neunzigern sei Frankfurt an der Oder ein „Ort des Weg-hier, ohne echtes Zurück“ gewesen, beschreibt Christian Bangel seine Heimat. „Manchmal traf man noch ein paar Nazis, bevor der Zug endlich Richtung Berlin oder Dresden abfuhr.“

Heute stellt die Stadt viele Klischees über Ostdeutschland auf den Kopf. Dort „hasten Menschen mit H&M-Sakko und Kopfhörern stadteinwärts. Frankfurter, Geflüchtete, Studentinnen oder Polen, oder alles zusammen.“ Bürgermeister ist der 34-jährige René Wilke, der als gemeinsamer Kandidat für Linkspartei und Grüne angetreten war. Bangel schaut auf Frankfurt „wie auf die Eltern, die in ihren alten Tagen aus irgendeinem Grund beginnen, merkwürdige, aber zauberhafte Dinge zu tun.“

Doch eine Gruppe von etwa 15 Flüchtlingen, fast alle aus Syrien, versetzt die Stadt in Unruhe. Sie bedrohen Polizisten und attackieren Passanten. In der Nacht, in der in Chemnitz Daniel H. erstochen wurde, griffen die Syrer mit Messern und Eisenstangen einen Club an. Sie sollen „Wir sind Araber“ und „Wir stechen euch alle ab“ gerufen haben. Augenzeugen sagen, es sei großes Glück, dass niemand getötet wurde.

Es gab keine rechten Massenproteste wie in Chemnitz, aber der Überfall beherrscht seitdem die Stadt. Bürgermeister Wilke hatte im Wahlkampf gesagt, er sei dagegen, kriminelle Flüchtlinge abzuschieben. Jetzt will er die Syrer loswerden.

Wilke hat nicht nur eine juristische Frage aufgeworfen, sondern auch eine politisch grundsätzliche. Denn was tut ein Land, dessen Strafrecht ganz auf Resozialisierung ausgelegt ist, eigentlich mit traumatisierten und gewaltaffinen Flüchtlingen, die offenkundig keine Integrationsperspektive haben?

Der Text kann und will diese Frage nicht beantworten, aber er beleuchtet das Thema ungeschönt und aus mehreren Perspektiven. Ich finde es wichtig, dass Linke auch über kriminelle Flüchtlinge sprechen, die kein Teil dieser Gesellschaft werden wollen. Sie sind die Ausnahme, aber es gibt sie. Christian Bangel zeigt, wie das funktionieren kann.