Fremde Federn

Billigessen, gefährdete Besserverdiener, Klimastreit

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum die Kluft zwischen Land- und Stadtbevölkerung sich zur nächsten großen gesellschaftlichen Klippe entwickelt, wie sich der Libanon in eine Währungskrise manövrierte und weswegen Selbstverwirklichung im Job nicht überpriorisiert werden sollte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

„Sie erzählen nur, was alles nicht geht!“ Wirtschaftsminister und Forscher streiten über Klimapaket

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Dmitrij Kapitelman

Die Süddeutsche lud Wirtschaftsminister Peter Altmaier und Klimaforscher Stefan Rahmstorf zum Disput über das Klimapaket. Und dieser gut moderierte Dialog verdient tatsächlich das Prädikat Streitgespräch. Was vor allem am unnachgiebigen, fast furiosen Forscher liegt, der der Bundesregierung nicht weniger als Mut-, Kenntnis- und Verantwortungslosigkeit unterstellt. Passen die Aussagen der Wissenschaft politisch, dann werden sie gehört; die Unbequemen dagegen ignoriert:

„Was die Bundesregierung da macht, das ist, als hätte man einen Tumor und sieben Spezialisten empfehlen sofortige Strahlentherapie. Und die Regierung sagt, ja, okay, aber ich fange erst in zwei Jahren an und nehme nur ein Fünftel der Dosis.“

Altmaier argumentiert, dass Politik immer auch Interessenausgleich bedeutet und das politisch Mögliche suchen muss. Erinnert an Nöte und Ängste der Menschen. Rahmstorf schießt präzise, dass eben diese bei dem Paket schlecht wegkämen. Und erinnert an die drohenden Nöte und Ängste, wenn der Planet zu Grunde geht. Sehr lesenswert!

Neue Studie: Besser ausgebildete, höher bezahlte Arbeitnehmer*innen am stärksten von KI bedroht

piqer:
Anja C. Wagner

Nun ist die Disruption auch in der Forschung angelangt: Eine neue Studie, basierend auf einem neuen algorithmischen Forschungsdesign eines Stanford-Doktoranden der Wirtschaftswissenschaften, kommt zu dem Ergebnis, dass KI vor allem die Jobs von besser ausgebildeten, besser bezahlten Arbeitnehmer*innen bedrohen wird. Dazu entwickelte Michael Webb seinen eigenen Algorithmus,

um die Sprache aus 16.400 KI-Patenten mit den spezifischen Wörtern zu vergleichen, mit denen 769 verschiedene Arbeitsplätze in der offiziellen Berufsdatenbank der Regierung, bekannt als O*NET, beschrieben werden.

Betroffen sein werden demnach z. B. Radiologen, Juristen, Optiker, Marketingspezialisten, Vertriebsleiter, Programmierer und persönliche Finanzberater (weibliche Form jeweils mitgedacht). Das bedeutet, hochqualifizierten Bildungsabschlüssen kommt immer weniger Zukunftstauglichkeit zu.

Mitarbeiter mit Bachelor-Abschluss sind siebenmal mehr der KI ausgesetzt als solche mit nur einem High-School-Abschluss, sagt Brookings. Und asiatisch-amerikanische und weiße Arbeiter scheinen den Veränderungen durch die KI weitaus stärker unterworfen zu sein als Hispanos oder Afroamerikaner.

Klar kann KI auch neue Berufe entstehen lassen, sodass nicht alle entlassen werden müssen. Vielmehr kalkulieren sie mit einer „Drittelregel“:

  • Ein Drittel wird in andere Funktionen versetzt.
  • Ein Drittel wird geschult, um neben einer neuen Maschine arbeiten zu können (im Falle von Fabrikarbeitern) oder die KI zu nutzen, um das Denken zu erweitern, Geschäftsergebnisse vorherzusagen und in ihrer Arbeit effektiver zu sein (im Falle von Wissensarbeitern).
  • Und ein Drittel kann den Sprung nicht machen – oder bekommt nicht die Chance dazu.

Aber es besteht Hoffnung: Menschen möchten derzeit noch gerne mit anderen Menschen kommunizieren, obwohl die KI die Entscheidungen fällt. So können manche Menschen weiterhin ein Feature sein, sind aber nicht länger der Bug …

Herr Salame und der große Bluff – Libanons Zentralbank zerfällt

piqer:
Dmitrij Kapitelman

Hunderttausende Menschen demonstrieren im Libanon gegen Korruption. Sie haben es satt, von den Eliten bestohlen zu werden. Liest sich ebenso wahrheitsgemäß wie schablonenartig, oder? Berichterstattung über Aufstände im Ausland bleibt oft bei solchen Allgemeinsätzen stehen.

Deswegen finde ich den Text von ZEIT-Korrespondentin Lea Frehse so empfehlenswert. In diesem zeichnet Frehse nach, wie die Eliten Beiruts ihren Diebstahl eigentlich anstellen, welches System da genau besiegt werden soll. Beziehungsweise sich selbst schon fast besiegt hat, die Staatspleite ist nicht mehr weit. Alle Augen auf Riad Salame also, den 69-jährigen Chef der libanesischen Zentralbank.

Salame übernahm vor 25 Jahren eine vom Bürgerkrieg entwertete Lira und bewährte sich seitdem als Stabilitätsgarant. Auch im Ausland. Durch eine Dollaranbindung der Lira wollte er den Libanon zu einer Art Schweiz des Nahen Ostens machen. Da dieser Plan null aufgegangen ist, überlegte sich Herr Salame einen großen rettenden Bluff – bei der drittgrößten Staatsverschuldung weltweit.

Disclaimer: Der Bluff geht sehr wahrscheinlich nicht auf. Alles Weitere steht nüchtern und gut verständlich in diesem spannenden Text.

Klimawissenschaftler warnen (erneut): „Handelt jetzt!“

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Alexandra Endres

Hier geht es um Kipppunkte, hinter denen es kein Zurück mehr gibt, hat man sie erst einmal überschritten. Bezogen auf den Klimawandel heißt das z. B.: Taut der Permafrostboden, werden mächtige Treibhausgase in großen Mengen freigesetzt, die danach praktisch nicht mehr eingefangen werden können. Ähnliches geschieht, wenn das Ökosystem des Amazonaswaldes zerstört wird oder der Eisschild der Westantarktis taut: Die Erderwärmung verstärkt sich dann selbst, und das Erdsystem kippt in einen neuen, außerordentlich unerfreulichen Zustand.

Man weiß schon lange, dass es diese Kipppunkte gibt und welche es sein könnten. Jetzt schreiben Klimaforscher wie Timothy M. Lenton, Johan Rockström und Hans Joachim Schellnhuber: Die Hinweise vermehrten sich, dass

these events could be more likely than was thought, have high impacts and are interconnected across different biophysical systems, potentially committing the world to long-term irreversible changes.

Früher dachte man, Kipppunkte würden sehr wahrscheinlich nur dann überschritten, wenn die durchschnittliche Temperatur der Erde bereits um fünf Grad höher liege als zu vorindustrieller Zeit. Neue Informationen aber deuten darauf hin, dass es schon zwischen einem und zwei Grad Erwärmung so weit sein könnte. Das ist jetzt.

Zusätzlich können sich Eisschmelze, Verlangsamung des Golfstroms, regionale Trockenheit und Hitze gegenseitig verstärken – und uns so zu einem „globalen Kipppunkt“ führen, bei dessen Überschreiten dann das ganze Erdsystem kippt.

Some scientists counter that the possibility of global tipping remains highly speculative. (… But t)o err on the side of danger is not a responsible option.

Rockström kommentiert auf Twitter:

There is now scientific support for declaring a state of Planetary Emergency.

Die bisher unter dem Pariser Abkommen registrierten nationalen Klimaziele laufen übrigens auf eine Erderwärmung um drei Grad hinaus – falls sie tatsächlich umgesetzt werden. Im Moment sieht es aber eher nicht so aus.

Volk und Landwirtschaft

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Thomas Wahl

Lebensmittel sind in Deutschland unschlagbar billig, was Vielen ein schlechtes Gewissen macht. Noch nie haben wir anteilig so wenig für unsere Nahrung ausgegeben wie gegenwärtig.

Von 100 Euro, die ein Durchschnittshaushalt in Deutschland für den privaten Konsum ausgibt, entfallen knapp 14 Euro auf Lebensmittel. Vor 40 Jahren waren es noch rund 20 Prozent, vor 50 Jahren rund 30 Prozent, und vor dem Ersten Weltkrieg ging sogar noch die Hälfte des verfügbaren Einkommens dafür drauf, dass alle in der Familie satt wurden. Damals gab es noch Millionen kleine Bauernhöfe im Land. Heute sind es nur noch 270.000 …..

Das scheint gleichzeitig Fluch und Segen zu sein. Der Autor diskutiert – ohne Schaum vorm Mund – die Frage, ob wir uns dafür schämen müssen. Er bringt viele Zahlen und oft übersehene Mechanismen der Preisbildung. Ursache und Wirkung sind nicht so mechanisch zuordenbar, wie es oft (ideologisch induziert) geschieht. Nur ein Beispiel:

Von jedem Euro, den wir an der Kasse für Lebensmittel bezahlen, gehen im Durchschnitt nämlich nur 25 Cent an die Landwirtschaft. Dieser Anteil ist in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gesunken. Das liegt, … , nicht so sehr daran, dass die großen Supermarkt- und Discounterketten die Landwirte abzocken. Sondern vor allem daran, dass wir immer weniger unverarbeitete Lebensmittel und außerdem stetig kleinere Einzelmengen kaufen, weil häusliche Lagerhaltung und Kochen so sehr aus der Mode gekommen sind. Wer sein Geld lieber beim Landwirt als beim Nahrungsmittelkonzern sieht, der muss zu Kartoffeln im Fünf-Kilo-Sack statt zur Fertigpizza greifen.

Oder etwa die Frage, ob regionales Gemüse per se ökologischer ist als das aus dem Süden. Der Artikel kommt zu dem Schluss, eine Tomate im norddeutschen Gewächshaus gereift, generiere dabei 5-mal mehr CO2, verglichen mit einer aus dem sonnigen Italien, was auch der Transport nicht „auffrisst“.

Den kompletten Artikel kann man übrigens für kleines Geld bei Blendle kaufen. Es lohnt sich!

„Ich wähle Boris Johnson, weil er lügt!“

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Silke Jäger

So antwortete eine Britin, als sie gefragt wurde, wen sie zu wählen gedenke und warum. Das zeige, wie menschlich Johnson sei.

In diesem Text zählen die Autor:innen zusammen, was die Parteien im britischen Wahlkampf tun, um Wähler:innen zu erreichen. Nach dem Lesen versteht man besser, wie es passieren kann, dass Menschen ihre politische und moralische (ja, auch die!) Orientierung verlieren. Auf allen Kanälen dominieren Soundbites, einfache Info-Schnipsel, die eins nicht schaffen: zu informieren. Dafür eignen sie sich wunderbar für ständige Wiederholung. So prägen sich die Botschaften besser ein.

Vieles, was jetzt alle Parteien machen, brachte beim EU-Referendum vor drei Jahren einen Vorteil für die Leave-Kampagnen – sind also bewährt. Möglich wird’s, weil viele Regeln, die für analoge Wahlwerbung gelten, im Online-Wahlkampf nicht greifen. Immer noch nicht. Obwohl ein Bericht eines Parlamentsausschusses eine Reform der UK-Wahlgesetzgebung dringend empfahl, was bis heute ignoriert wird. Möglich wird’s aber auch, weil die Regeln, die es gibt, gedehnt werden. Von der Tabloid-Presse erwartet man es schon fast nicht anders. Aber auch die TV-Sender versagen zunehmend und senden Verzerrungen und Lügen, ohne sie als solche zu entlarven.

Die Einzelheiten dieses Phänomens stellt dieser kompakte Text vor. Für alle, die sich weniger wundern wollen über die Briten, die beim ersten Hinsehen einfach nur verrückt geworden sind und Johnson wählen würden, weil er sich als der fehlerhafte Kumpel von nebenan verkauft. Auf den zweiten Blick aber sehr zu bedauern sind. Weil es verdammt schwer geworden ist, an gute und neutrale Informationen zu kommen, wenn man keine andere Sprache außer Englisch spricht und die gesteuerten Botschaften durch alle Löcher so bequem ins Haus flattern.

Wie geht es den Landwirt*innen jenseits von Skandalen und Protesten?

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Sven Prange

Die Kluft zwischen Land- und Stadtbevölkerung entwickelt sich derzeit zur nächsten großen gesellschaftlichen Klippe. Belege dafür sind das Aufziehen größerer Traktorschwärme vor deutschen Regierungs- oder Parlamentssitzen, die Tatsache, dass die Bundeskanzlerin höchst selbst sich mittlerweile um die Moderation der verfahrenen Lage kümmert, und das ein oder andere Bürgerbegehren in deutschen Bundesländern oder der EU.

Viele Verbraucher*innen machen die Landwirt*innen für Tierhaltungsskandale, Trinkwasserverschmutzung oder Artensterben verantwortlich. Viele Landwirt*innen wiederum die Verbraucher*innen für Niedrigstpreise, fehlenden Respekt und unerfüllbare Ansprüche. Pestizidreduktion, mehr Öko-Anbau, mehr Tierwohl – in dem Maße, in dem sich diese Forderungen auch in der Politik durchsetzen, ist es für viele Landwirt*innen der berühmte Tropfen, der zu viel ist. Wie wir an Grünen Kreuzen oder Traktor-Protesten sehen

Tatsächlich ist es für viele Landwirt*innen nicht leicht, mit den Anforderungen von Umwelt, Arten und Verbrauchern und gleichzeitig einer Landwirtschaftspolitik und einem Verbraucherverhalten klar zu kommen, die oft Anreize in die Gegenrichtung geben. Dass sich viele davon unverstanden fühlen, zeigt sich dieser Tage an völlig neuen Protestformen der Landwirt*innen: Weil ihnen der Bauernverband zu träge ist (und viele Landwirt*innen ja durch seine industriehörige Interessenspolitik in die Pleite getrieben hat), formieren sie sich zu neuen Protestvereinigungen.

In dieser Gemengelage hat der SWR unter dem nicht ganz unkitschigen Titel „Land Liebe Luft“, eine Serie gestartet, die zwar ein leicht rosiges Bild auf die Landwirtschaft wirft – aber ein nicht unrealistisches und vor allem konstruktives Bild der deutschen Landwirtschaft entwirft. In einer ganzen Reihe an Filmen begleitet der Sender unterschiedliche Höfe und Konzepte und wirft so den Scheinwerfer auf ein Bild, das sonst oft unausgeleuchtet bleibt: Wie es den Landwirt*innen im Land wirklich geht.

Die Arbeit, das Leben und der Sinn vom Ganzen

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Thomas Wahl

Muss man für seinen Beruf brennen? Wie viel Sinn sollte man im Job finden? Und was braucht eigentlich eine Volkswirtschaft, beziehungsweise ihre Unternehmen für Mitarbeiter?

Unternehmen brauchen Mitarbeiter, die ihre Aufgaben beherrschen. Wenn das mit unrealistischen Ansprüchen auf Selbstverwirklichung kollidiert, wird es schwierig. Leidenschaft und Sinnerfüllung ersetzen weder Kompetenz noch Zuverlässigkeit. Ich will, dass mein Arzt oder ein Handwerker seine Arbeit gut macht, ob mit oder ohne Selbstverwirklichung. Selbst bei Chirurgen, die jeden Tag am offenen Herzen operieren, setzt irgendwann Routine ein. Viele Jobs bestehen zu einem Großteil aus Routinen. Das sorgt für große Effizienz und eine geringe Fehlerquote. Akten zu bearbeiten klingt nicht besonders aufregend.

Der Autor kritisiert die romantische Verklärung von Aussteigergeschichten, die Idee, Arbeit müsse Sinnsuche sein und führe nur dann zu einem guten und befriedigenden Leben. Arbeitsteilige Gesellschaften sind voller alltäglicher Arbeitsroutinen, die nicht besonders exotisch, aber trotzdem sinnvoll sind. Keiner soll natürlich sinnlos tätig sein, aber jeder sollte seinen Beruf beherrschen. Und auch das übrige Leben gut nutzen.

Ein kleiner „Nachdenkartikel“ …

Ostdeutsches Landleben – wo die gelangweilten Männer wohnen

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Marcus Ertle

Man hat es nicht leicht mit der Provinz. Zumindest nicht als Journalist. Man sehnt sich ja eigentlich (zumindest eine zeitlang) nach Hamburg und Berlin, wo man dann zur Elite gehört und Preise bekommt und das, was man Kleinstadt oder Dorf nennt, ach… höchstens für bittere Witze taugt oder für Verachtung für die zurückgebliebenen Dörfler.

Das war jedenfalls mal so. Und dann kam 2015, Flüchtlingsbewegung, Pegida, AfD-Erfolge im Osten. Und vor allem die ostdeutsche Provinz wurde so etwas wie das Schmuddelkind, das so unübersehbar auf den Teppich gekotzt hat, dass man es einfach nicht mehr ignorieren konnte und sich fragte: Wie sind die eigentlich so?

Ja, wie sind die so, die Bewohner jener Landstriche, in denen die Frauen fehlen und die Abwechslung und auch sonst viel an sozialer Infrastruktur? Wenn man dieses angenehm zurückhaltende Porträt einer Dorfjugend im SPIEGEL liest, denkt man sich: Hm, die sind vor allem ziemlich gelangweilt und eher rechts und eher, na ja, nicht unbedingt mit dem weitesten Horizont gesegnet. Aber das sagt sich natürlich leicht, wenn man vom urbanen Elfenbeinturm aus schaut und spricht. Am besten macht man sich selbst ein Bild und geht mit auf Ortskontrollfahrt, wie die hochmotorisierten jungen Männer des kleinen Örtchens in Brandenburg ihre Spazierfahrten (vielleicht sogar unironisch) nennen. Es lohnt sich.