„Reform" statt Austritt

Warum die neue Strategie der rechten Europaskeptiker gefährlich für die EU ist

Nicht nur in Deutschland, auch in vielen anderen Mitgliedstaaten geben sich rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien nicht mehr einfach nur als Europagegner – sondern versuchen, die Europäische Union nach ihren eigenen Vorstellungen umzugestalten. Eine Analyse von Manuel Müller.

Marine Le Pen kämpft nicht mehr „gegen Europa, sondern gegen die Europäische Union“. Foto: Global Panorama via Flickr (CC BY-SA 2.0)


Der Parteitag, auf dem die AfD jüngst ihr Europawahlprogramm verabschiedet hat, war von einer Grundsatzdebatte über die Haltung zur Europäischen Union geprägt: Soll die AfD für einen schnellen Austritt Deutschlands aus dem Staatenverbund eintreten?

Während der hart rechte Flügel es mit dieser „Dexit“-Forderung zunächst in den Leitantrag (und in die Medien) schaffte, bemühte sich die Parteispitze um Abwiegelung. Schließlich beschloss der Parteitag, den Dexit nur noch als Ultima Ratio in Erwägung zu ziehen und sich stattdessen für eine „Reform“ der EU einzusetzen – eine Reform freilich, bei der die EU von einer supranationalen zu einer rein zwischenstaatlichen Organisation zurückgestutzt werden, ihre Gesetzgebungskompetenz verlieren sowie das Europäische Parlament abgeschafft und durch eine Versammlung nationaler Delegierter abgelöst werden soll.

Nun könnte man diesen parteiinternen Streit zwischen Austritt und „Reform“ als eine bloße Gespensterdebatte abtun: Weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene ist zu erwarten, dass die AfD in absehbarer Zeit so viel politische Macht erringt, dass sie solche radikalen Forderungen umsetzen könnte. Doch die AfD ist nicht allein, und ihre Debatte fügt sich in eine Entwicklung ein, die der Londoner Historiker und Europawissenschaftler Alexander Clarkson jüngst in einem Politico-Gastbeitrag beschrieben hat: Nicht nur in Deutschland, auch in vielen anderen Mitgliedstaaten geben sich rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien nicht mehr einfach nur als Europagegner – sondern versuchen, die Europäische Union nach ihren eigenen Vorstellungen umzugestalten.

Das „wahre Europa“ gegen die supranationale EU

Rhetorisch zeigte sich diese geänderte Linie etwa im vergangenen Oktober bei einem Treffen zwischen dem italienischen Innenminister Matteo Salvini und der französischen Rechtsaußenpolitikerin Marine Le Pen. Bei der anschließenden Pressekonferenz betonte Le Pen, sie kämpften nicht „gegen Europa, sondern gegen die Europäische Union“, vor der es „das wahre Europa“ zu retten gelte. Salvini wiederum beschimpfte Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici als „Feinde Europas“.

Vor einigen Tagen wiederum bezeichnete Salvini nach einem Treffen mit dem polnischen Innenminister Joachim Brudziński die polnische und die italienische Regierung als „Teil eines neuen Frühlings in Europa“. Brudziński selbst kündigte an, sie wollten „die EU so reformieren, dass sie den Bürgern näher ist als den Eliten“. (Dass damit insbesondere die Schwächung der Europäischen Kommission gemeint war, die in den letzten Monaten verstärkt gegen die Angriffe der polnischen Regierung auf die Rechtsstaatlichkeit vorgegangen ist, bedurfte keiner weiteren Erklärung.)

Und der damalige österreichische Oppositionsführer und heutige Innenminister Heinz-Christian Strache erklärte schon 2016 in einem Facebook-Eintrag: „Wir [EU-Kritiker] müssen Europa sein und nicht die EU-Zentralisten!“, und forderte deshalb eine „europäische Reform und ein neues und bürgernahes Europa der föderalen Vaterländer“.

„Proeuropäisch“ nannten sich bisher nur die Mitte-Parteien

Dass sich hinter dem Schlagwort einer „EU-Reform“ auch das Ziel einer Renationalisierung und Schwächung der europäischen Institutionen verbergen kann, ist nichts ganz Neues. Vor allem im Europadiskurs der großen britischen Parteien war dieser Topos allgegenwärtig, ehe sich mit dem Brexit-Referendum 2016 doch die Austrittsforderung der radikalen UKIP durchsetzte. Die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), an deren Gründung die britischen Tories 2009 maßgeblich beteiligt waren, hat das Schlagwort sogar in ihrem Namen übernommen.

Auf dem europäischen Kontinent spielte diese Idee einer europäischen „Reform“ von rechts hingegen lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Die europapolitischen Konfliktlinien fielen hier in der Regel klarer aus: Als „proeuropäisch“ bezeichneten sich bislang meist nur die Parteien der politischen Mitte, die die grundlegenden Prinzipien der EU – etwa den supranationalen Charakter ihrer Institutionen, den Anwendungsvorrang des Europarechts oder die vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts – anerkannten und auf eine „immer engere Union“ hinarbeiten wollten.

Rechtspopulisten und Rechtsextreme beschränkten sich hingegen darauf, das Loblied auf den starken, souveränen Nationalstaat zu singen, dessen „Freiheit“ (so das gemeinsame Schlagwort im Namen der beiden anderen Rechtsfraktionen im Europäischen Parlament, ENF und EFDD) durch die europäische Einigung gefährdet sei. Allenfalls bei der globalisierungskritischen Linken fand sich auch die ambivalente Forderung nach einem „anderen Europa“ – wobei allerdings meist offen blieb, was damit institutionell eigentlich genau gemeint war.

Der Brexit macht Austrittsforderungen unattraktiv

Wie aber ist es zu erklären, dass nun auch die Rechtsaußen-Parteien Europa für sich entdecken – und handelt es sich dabei nur um eine rhetorische Taktik, oder verbirgt sich dahinter auch eine neue Strategie? Vor allem drei Faktoren scheinen mir hier eine Rolle zu spielen, von denen sich zwei mehr oder weniger zufällig aus den gegebenen Umständen heraus ergeben und vor allem auf eine taktische Anpassung hinweisen. Der dritte hingegen ist struktureller Art und macht einen längerfristigen Strategiewechsel der europäischen Rechten plausibel.

Der erste dieser Faktoren ist die britische Erfahrung. Im Umfeld des Referendums 2016 war immer wieder von einem möglichen Domino-Effekt die Rede, durch den der Brexit europaweit den Europagegnern Auftrieb verleihen und den Austritt noch weiterer Länder nach sich ziehen könnte. Eingetreten ist das Gegenteil: Schon vor dem eigentlichen Austritt schwächte der Brexit nicht nur die britische Wirtschaft, sondern führte auch zu einer politischen Krise, die die Idee einer souveränen nationalen Demokratie ad absurdum führte. Parallel dazu stiegen die europaweiten Zustimmungswerte zur EU im Eurobarometer 2018 auf den höchsten Stand seit mehreren Jahrzehnten. Es ist daher auch für rechtsnationale Parteien taktisch naheliegend, die Forderung nach einem EU-Austritt gerade eher nicht in den Vordergrund zu stellen.

Ausgrenzende europäische Identitätskonstruktionen

Ein zweiter Faktor ist die zentrale Rolle, die die Asyl- und Einwanderungspolitik in den letzten Jahren erhalten hat. Noch bis 2014 wurde die europapolitische Auseinandersetzung von der Eurokrise dominiert – ein Thema, das (insbesondere im Diskurs rechter Parteien) von harten ökonomischen Interessengegensätzen zwischen den EU-Mitgliedstaaten geprägt war. In der Migrationsdebatte seit 2015 gelten hingegen nicht die anderen EU-Länder, sondern Menschen aus nicht-europäischen Ländern als die „Anderen“.

Zwar gibt es insbesondere in der Frage der Umverteilung von Asylbewerbern weiterhin auch nationale Interessengegensätze zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Doch dieses Thema verliert zunehmend an Bedeutung gegenüber der Frage, wie die europäischen Außengrenzen geschützt sein sollten – und hier treten die europäischen Rechten länderübergreifend für eine stärkere Abschottung ein. Der ursprünglich kritisch gemeinte Begriff der „Festung Europa“ wird von Politikern wie Strache, Salvini, Viktor Orbán oder Jörg Meuthen nun positiv besetzt.

Die ausgrenzenden Identitätskonstruktionen, die einen zentralen Bestandteil rechtspopulistischer Politik ausmachen, funktionieren dadurch nicht mehr nur national, sondern auch gesamteuropäisch. Womöglich ist es deshalb nur noch eine Frage der Zeit, bis sich rechtspopulistische Parteien auch das Schlagwort der „europäischen Souveränität“ aneignen, das der französische Präsident Emmanuel Macron – wenn auch mit anderer Intention – in die europapolitische Debatte eingebracht hat.

Konsensstrukturen machten die EU erst zu schwerer Beute …

Doch sowohl die abschreckende Erfahrung des Brexits als auch die für die rechten Parteien gemeinschaftsstiftende Debatte über den Schutz der europäischen Außengrenzen sind nur vorübergehende Umstände, die schon bald neuen Themen weichen könnten. Auf eine dauerhafte Veränderung in der Haltung der europäischen Rechten zur Europäischen Union weist hingegen der dritte, strukturelle Faktor hin: der wachsende Einfluss, den rechte Parteien auf die europäische Politik erhalten, seitdem sie in mehreren Mitgliedstaaten die Regierungsmacht übernommen haben.

Dass rechte Parteien mit der europäischen Einigung bislang wenig anzufangen wussten, liegt nämlich nicht nur in ihrer nationalistischen Tradition verankert, sondern hat auch institutionelle Gründe: Im Vergleich zu den meisten demokratischen Nationalstaaten sind die Verfahren der Europäischen Union sehr konsensorientiert; Entscheidungen kommen in der Regel nur durch breite Kompromisse sowohl zwischen den europäischen Parteien als auch zwischen den nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten zustande.

Diese Konsensstrukturen machen eine schnelle Machtübernahme durch politische Außenseiter unmöglich: Anders als auf nationaler Ebene genügt in der EU ein einzelner Wahlsieg nicht, um große Regierungsmacht zu gewinnen. Das ist ein demokratisches Problem, macht die EU aber auch zu einer schweren Beute für machthungrige Demagogen. Solange die rechtspopulistischen Parteien auf eine Oppositionsrolle beschränkt waren, hatten sie deshalb wenig Anreiz, sich konstruktiv in die europäische Politik einzubringen. Stattdessen konzentrierten sie sich auf den Machtgewinn auf nationaler Ebene und nutzten die EU nur rhetorisch als einfachen Buhmann.

… aber bieten den Rechtsparteien jetzt ein Einfallstor

Dieselben Konsensstrukturen, die lange den Zugang rechter Parteien zur europäischen Macht behindert haben, machen es aber auch schwer, sie davon fernzuhalten, sobald sie erst einmal in einer nennenswerten Zahl von Mitgliedstaaten stark geworden sind. Am einfachsten ist dies noch im Europäischen Parlament: Auch wenn rechte Parteien bei der Europawahl 2019 noch einmal dazugewinnen dürften, wird es im Parlament weiterhin auch ohne sie eine solide Mehrheit geben.

Hingegen wird es im Ministerrat immer schwieriger, die für die europäische Gesetzgebung notwendigen qualifizierten oder gar einstimmigen Mehrheiten zu finden, ohne dabei auch rechte Regierungen einzubeziehen. Und da in der Praxis jede nationale Regierung einen Kommissar nominiert, wird es in der 2019 gewählten EU-Kommission aller Voraussicht nach nicht nur Vertreter der ungarischen Fidesz, sondern auch der PiS und vielleicht sogar der Lega oder der FPÖ geben. Die Rechtsparteien gewinnen in der EU also an institutioneller Macht – und haben damit einen wachsenden Anreiz, diese Macht konstruktiv zu nutzen, um eigene politische Ziele zu verwirklichen und ihre Vorstellungen einer illiberalen und exkludierenden Gesellschaftsordnung auch auf europäischer Ebene voranzutreiben.

Manfred Webers EVP gibt sich nach rechts offen

Die Frage, wie weit man sich auf Kompromisse mit den Rechtsparteien einlassen sollte, wird für die Parteien der Mitte deshalb zu einer zentralen Herausforderung der nächsten Jahre. Die christdemokratisch-konservative Europäische Volkspartei hat sich unter ihrem Spitzenkandidaten Manfred Weber für den Ansatz des „Brückenbauens“ entschieden: Weber setzt nicht nur parteiintern auf eine Einbindung des rechten Flügels um den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán. Auch allgemein signalisierte er jüngst Bereitschaft für eine Zusammenarbeit mit allen Akteuren, die „nicht fundamental gegen die EU“ sind, was aus Webers Sicht die EKR-Fraktion und offenbar auch die polnische und die italienische Regierung mit einschließt.

Eine solche nach rechts offene Haltung mag auf den ersten Blick durchaus pragmatisch erscheinen, um eine drohende Blockade europapolitischer Entscheidungen durch die Rechtsparteien zu vermeiden. Dass diese sich so dauerhaft einhegen lassen, sollte man jedoch nicht hoffen: Sieht man von Fällen wie den finnischen Perussuomalaiset ab, die seit ihrer Regierungsbeteiligung 2015 stark in der Wählergunst zurückgingen und sich 2017 spalteten, profitierten die europäischen Rechtsparteien bislang eher davon, wenn die EU Konflikten aus dem Weg ging und sie frei gewähren ließ.

Verankern sich die Rechtsparteien in den Institutionen der EU?

Gerade für die institutionelle Fortentwicklung der EU und den weiteren Ausbau der europäischen Demokratie, aber auch für die Rechtsstaatlichkeit in Europa und für die völkerrechtsfreundliche Rolle der EU in der Welt ist die neue „konstruktive“ Haltung der europäischen Rechtsparteien deshalb wohl die größere Gefahr als ihre frühere offene Ablehnung. Wenn sich die Rechtsparteien in den europäischen Institutionen verankern und ihre Vorstellungen zur „Reform“ der EU auch in der politischen Mitte salonfähig werden, wäre das das Ende der europäischen Integration, wie wir sie bisher kennen.

Die Zeiten bleiben also stürmisch. Das Haupteinfallstor aber wird auch in Zukunft nicht die Europawahl und das Europäische Parlament sein, wo die Rechten nach wie vor weit von einer Mehrheit entfernt sind, sondern die Macht der von ihnen kontrollierten nationalen Regierungen im Rat. Wenn wir darüber nachdenken, wie sich Demokratie und Rechtsstaat vor ihren Gegnern schützen lassen (siehe etwa diese spannende Verfassungsblog-Debatte), dann sollte uns das eine Lehre sein: Konsensstrukturen und eine weitreichende Ebenenverflechtung machen eine Verfassungsordnung nicht unbedingt resilienter, sondern können einer autoritären Minderheit sogar als politischer Hebel dienen, sobald diese erst einmal eine gewisse Größe erreicht hat.

 

Zum Autor:

Manuel Müller ist freier Publizist und Politikberater in Berlin. Er betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“, wo dieser Beitrag zuerst erschienen ist. Auf Twitter: @foederalist

 

Hinweis:

Hier finden Sie eine Roadmap, in der Manuel Müller die wichtigsten Termine und Stationen bis zur Europawahl im Mai dokumentiert.