Kommentar

Mario Draghi will auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen

EZB-Präsident Mario Draghi wünscht sich von den europäischen Haushaltspolitikern weniger Steuern und mehr öffentliche Investitionen – bei gleichzeitiger Einhaltung des Stabilitätspakts. Dafür müsste aber das europäische Sozialmodell geschleift werden.

Foto: World Economic Forum via Wikimedia Commons (Flickr: Special Address: Mario Draghi, CC BY-SA 2.0).

Am Montag hat Mario Draghi ein weiteres Mal die Politik dazu aufgerufen, der EZB bei ihrem gigantischen (und bisher vergeblichen) Versuch zu helfen, die Eurozone aus dem Zustand der semi-permanenten Stagnation zu befreien. Hier das Zitat aus seinen einleitenden Bemerkungen vor der Anhörung durch das Europäische Parlament:

In parallel, other policies should help to put the euro area economy on firmer grounds. It is becoming clearer and clearer that fiscal policies should support the economic recovery through public investment and lower taxation. In addition, the ongoing cyclical recovery should be supported by effective structural policies. In particular, actions to improve the business environment, including the provision of an adequate public infrastructure, are vital to increase productive investment, boost job creations and raise productivity. Compliance with the rules of the Stability and Growth Pact remains essential to maintain confidence in the fiscal framework.

In einem Satz zusammengefasst: Draghi will also weniger Steuern, mehr öffentliche (Infrastruktur-)Investitionen und die 3%-Defizitgrenze einhalten. Ich habe dazu folgende Anmerkungen:

Es ist schlicht und ergreifend nicht möglich, das Wachstum anzukurbeln und gleichzeitig die Grenzen des Stabilitätspakts einzuhalten. Schauen wir uns die haushaltspolitischen Spielräume an, die die Eurostaaten 2015 für Mehrausgaben gehabt hätten (die Spielräume ergeben sich aus der Differenz zwischen dem tatsächlichen Haushaltsdefizit und der 3%-Grenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts):

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Nicht nur, dass der haushaltspolitische Spielraum für die Währungsunion als Ganzes mit 0,8% der Wirtschaftsleistung lächerlich gering ist (unter der Annahme eines Fiskal-Multiplikators von 1,5 würde das zusätzliche Wachstumseffekte von insgesamt 1,2% ergeben) – die Spielräume sind auch noch ungleich verteilt.

Der (leichte) Anstieg der gelben Trendlinie zeigt uns, dass ausgerechnet die Länder den größten haushaltspolitischen Spielraum haben, die ihn am wenigsten brauchen und 2015 schneller gewachsen sind. Mit anderen Worten: Wir sollen also jetzt dieselben Leute, die nicht in der Lage sind, ein geringes Maß an Anstand und Solidarität zu zeigen, um eine humanitäre Notlage wie die Flüchtlingskrise zu bewältigen, darum bitten, eine haushaltspolitische Expansion für das Gemeinwohl der Eurozone zu organisieren. Viel Glück dabei…

Draghi ist zu schlau, um nicht zu wissen, dass die benötigten Mehrausgaben die Grenzen des Stabilitätspaktes sprengen würden – zumindest bis wir eine echte „goldene Regel“ haben, die öffentliche Investitionen aus der Defizit-Berechnung herausnimmt.

Also wie können wir niedrigere Steuern, mehr Investitionen und gleichzeitig ein geringes Defizit haben? Darauf scheint es wirklich nur eine Antwort zu geben: Wir müssten die Ausgaben kürzen. Und ich denke, es ist es wert, an diesem Punkt offen zu sein: Abgesehen von kleineren Streichungen irgendwo am Rand der Budgets ist der einzige Weg, die öffentlichen Ausgaben spürbar zu kürzen, die ernsthafte Verkleinerung unseres Wohlfahrtsstaates.

Wir können darüber diskutieren, ob unser Wohlfahrtsstaat mit der modernen globalisierten Wirtschaft unvereinbar ist (ich glaube das nicht). Aber so zu tun, als wenn wir den Investitionsschub, den sogar Draghi heute für nötig hält, bekommen und gleichzeitig unseren Wohlfahrtsstaat unberührt lassen könnten, ist schlicht und ergreifend Nonsens. Man kann nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen.

Gibt es eine „Hidden Agenda“?

Daher sollten wir über unseren Gesellschaftsvertrag reden. Wollen wir ihn behalten oder nicht? Sind für bereit, den Preis dafür zu zahlen? Sind wir uns darüber im Klaren, was eine geringere soziale Absicherung bedeuten würde? Sind unsere Institutionen bereit für eine Welt, in der die automatischen Stabilisatoren eine erheblich geringere Rolle spielen würden?

Wenn die EU-Bürger diese (und andere) Fragen diskutieren und dann – demokratisch! – entscheiden würden, das Sozialmodel der EU abzuschaffen, würde ich keinen Widerspruch erheben. Ich wäre damit nicht einverstanden, aber ich würde nicht dagegen ankämpfen.

Das EU-Sozialmodell wird ohne echte Debatte demontiert

Das Problem ist jedoch, dass diese Veränderungen Schritt für Schritt eingeführt werden, ohne dass es darüber eine echte Debatte gegeben hätte. Ich bin kein Freund von Verschwörungstheorien. Aber als ich Draghis Äußerungen vom Montag gelesen habe, musste ich an das alte Stück von Jean-Paul Fitoussi denken, der behauptet, dass die europäischen Politiker eine „Hidden Agenda“ verfolgen würden (ich habe früher schon darübergeschrieben).

Die Krise hat den Widerstand dagegen geschwächt und es leichter gemacht, Schritt für Schritt das Sozialmodel der EU zu demontieren. Das Ergebnis ist eine zunehmende Unzufriedenheit, die außer denen, die es nicht sehen wollen, niemanden mehr überrascht. Ein italienischer Politiker aus einer anderen Zeit hat einmal gesagt, dass es eine Sünde sei, nur das Schlechteste von jemandem zu erwarten – aber gewöhnlich liegt man damit goldrichtig…

 

Zum Autor:

Francesco Saraceno ist Ökonom an der Universität OFCE Sciences-Po. Er twittert unter @fsaraceno und betreibt den Blog „Sparse Thoughts of a Gloomy European Economist“, wo dieser Beitrag zuerst erschienen ist.