Kommentar Aktiencrash

(Einfach) erklären… kann man das nicht

Parallel zu den Kursstürzen an den Börsen steigt auch die Zahl der Versuche, diese zu erklären. Allerdings leiden die meisten Analysen unter dem unerfüllbaren Anspruch, ein umfassendes Erklärungsmuster zu liefern.

Investor. Bild: Vladeb via Flickr (CC BY-ND 2.0)

Es herrscht Krisenstimmung an den Börsen – mal wieder. Die globalen Aktienmärkte haben seit Beginn des Jahres rund sechs Billionen US-Dollar an Wert eingebüßt. Der MSCI World Index, der die Entwicklung von Aktienmärkten in 23 Industrieländern zusammenfasst, hat seit Jahresbeginn um über 10% nachgegeben.

Je tiefer die Börsen fallen, desto höher steigt die Zahl der Analysen, die versuchen zu erklären, warum es dazu gekommen ist. Offenbar gibt es erheblichen Bedarf danach: Derzeit suchen bei Google so viele Menschen in Deutschland nach dem Wort „DAX“ wie zuvor nur im Oktober 2008 (Ausbruch der globalen Finanzkrise) und im August 2011 (Eurokrise).

Fundamentale Entwicklungen

Die bevorzugten Erklärungsmuster vieler Börsenberichterstatter bestehen in den „Sorgen“ der Investoren über die künftige Entwicklung in China, den USA, Japan, den Schwellenländern und der Weltwirtschaft insgesamt (lose Reihenfolge).

Diese Erklärungsansätze sind allerdings nicht wirklich neu und basieren auch nicht auf irgendwelchen Fundamentaldaten, die jetzt sonderlich schwächer ausgefallen wären als im letzten Jahr, als es an den Börsen noch kräftig nach oben ging. Abschwächung in China? Lange bekannt und im mehrheitlich erwarteten Rahmen. Krise in Schwellenländern wie Russland und Brasilien? Gab´s auch schon letztes Jahr. Sorgen um die Welt- und US-Wirtschaft? Siehe China. Die Zinswende durch die US-Notenbank? War schon lange im Voraus angekündigt und eingepreist. Krise in Europa? Normalzustand. Ölpreis-Kollaps? Schon eher, aber auch dieser Effekt ist nicht stark genug, um alleine für diese Kursverluste zu sorgen.

Herdentrieb

Wesentlich plausibler klingt da schon die Analogie, die Holger Schmieding, Chef-Volkswirt bei der Berenberg Bank, bemüht: Wenn in einem stark gefüllten Raum der Feueralarm angeht, gibt es zwei mögliche Risiken. Das erste besteht darin, dass es tatsächlich ein Feuer gibt. Das zweite besteht darin, dass sich die Leute aus Panik zu Tode trampeln, obwohl es gar nicht brennt. Schmieding tendiert eher dazu, die zweite Variante als Erklärung für die jüngsten Turbulenzen heranzuziehen.

An den Finanzmärkten werden die Erwartungen an die Erwartungen von anderen gehandelt

Damit bezieht er sich auf das Herdentrieb-Verhalten der Finanzmärkte. Es wird immer wieder behauptet, dass an den Finanzmärkten „die Erwartungen an die Zukunft“ gehandelt werden würden. Dem ist nicht so. An den Finanzmärkten werden vielmehr die Erwartungen an die Erwartungen von anderen gehandelt. In Zeiten wie diesen gilt mehr denn je Keynes´ altes Beauty Contest-Prinzip: „Ich denke, dass die anderen denken, dass ich denke, dass die anderen denken…“ Was nützt mir die Aktie eines eigentlich perfekt aufgestellten Unternehmens, wenn alle anderen Marktteilnehmer davon nichts wissen wollen und der Kurs des Unternehmens fällt?

Dem Herdentrieb zu folgen wird in so einem Umfeld fast schon zur Notwendigkeit. Wenn der Markt steigt, klettere ich mit. Wenn er fällt, steige ich losgelöst von meiner eigentlichen Überzeugung auch aus – oder wette im Idealfall noch auf weiter fallende Kurse.

Spielbanken

Womit wir bei einem meist aus dem linken Lager vorgetragenen Bild wären: Den Finanzmärkten als ungezähmten „Spielbanken“, die sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern und die Welt von einer Krise in die nächste stürzen. Dieses Bild findet sich etwa in einem aktuellen Kommentar von Heiner Flassbeck. Auf seinem Blog schreibt Flassbeck:

„Die Investment Banking-Bereiche wurden zwar etwas ausgedünnt, es konnte aber keine Rede davon sein, dass die Spielbanken in den Banken systematisch geschlossen wurden. Dazu waren auch die Regulierungen zu schwach, weil sich die Politik nicht traute, klar zu sagen, dass „Wetten“ keine gesellschaftlich relevante Arbeit ist und dass diese Art von Geschäften nicht unter irgendwelche Rettungsschirme fallen können, wenn es schiefgeht.“

Ich finde diese Darstellung viel zu pauschal und simpel. Denn die Spekulation, die Flassbeck und andere so vehement kritisieren, ist eine auch für die Realwirtschaft wichtige Komponente des internationalen Finanzsystems.

Ein gewisses Maß an Spekulation ist notwendig, um die Realwirtschaft abzusichern

Dazu ein Beispiel: Sagen wir, eine deutsche Firma verkauft ihr Produkt in ein Nicht-Euro-Land. Die Bezahlung soll in einem Jahr stattfinden und in einer Fremdwährung, z. B. dem US-Dollar, erfolgen. Dann unterliegt der Verdienst dieser deutschen Firma einem Wechselkurs-Risiko. Mit einem entsprechenden Finanzmarktprodukt, in diesem Beispiel durch ein Devisen-Derivat, kann sich die Firma jedoch gegen dieses Risiko absichern. Der Haken an der Sache ist nur: Damit diese Absicherung („Hedge“) zustande kommen kann, braucht es eine Gegenseite, die bereit ist, das Risiko dafür zu tragen – den Spekulanten, der darauf wettet, dass sich der Wechselkurs eben nicht in die von der Firma befürchtete Richtung entwickelt.

Ich bin zwar auch der Meinung, dass es derzeit viel mehr Spekulation gibt, als nötig oder gesund wäre. Es besteht aber auch das Risiko, dass durch eine zu starke Einschränkung der Spekulation (beispielsweise durch die Finanztransaktionssteuer) auch der Realwirtschaft, die man eigentlich schützen wollte, Schaden zugefügt wird. In eine ähnliche Richtung argumentiert etwa Christian Kirchner in der Zeitschrift Capital.

Geldpolitik

Aus der politisch entgegengesetzten Himmelsrichtung wird in diesen Tagen dagegen gerne die These vertreten, die Regierungen und allen voran die Zentralbanken mit ihrer expansiven Geldpolitik seien schuld an dem Schlamassel. So schreibt etwa Daniel Stelter im Manager Magazin, dass es die expansive Geldpolitik von Fed, EZB und Co. war, die überhaupt erst eine globale Schulden- und Spekulationsblase geschaffen hätte, die jetzt halt zu platzen drohe.

Argumentationen wie diese vergessen nur leider immer wieder, eine Alternative zu Niedrigzinsen und QE-Programmen aufzuzeigen. Natürlich bergen massive Liquiditätsspritzen das Risiko, Blasenbildungen an den Finanzmärkten und anderswo – der deutsche Immobilienmarkt lässt grüßen – zu begünstigen.

Aber was hätten die Zentralbanken denn machen sollen? Die Zinsen erhöhen, um alles, was irgendwo an zarten Wachstumspflänzchen gesprießt ist, wieder im Keim zu ersticken? Dem Bankrott von europäischen Schwergewichten wie Spanien oder Italien tatenlos zusehen? Die Finanzkrise in einer globalen humanitären Katastrophe eskalieren lassen, eine Art Griechenland für alle?

Es gibt nicht die eine Erklärung

Ich persönlich kann allen diesen Erklärungsansätzen etwas abgewinnen. Es gibt fundamentale Entwicklungen, die für eine Abkühlung des Börsenklimas sprechen. Es gibt ein Herdentriebverhalten und eine Zockermentalität an den Finanzmärkten, die Kursentwicklungen verstärkt – und sogar dann Krisen auslösen kann, wenn es eigentlich gar keinen „fundamentalen“ Grund dafür gibt. Und es gibt Risiken, die durch die Niedrigzinspolitik der Notenbanken entstanden sind.

Aber wovon man die Finger lassen sollte, ist, eines dieser Erklärungsmuster isoliert zu verwenden, was leider viele Berichterstatter tun. Dem Anspruch einer allumfassenden und „wahren“ Analyse kann man an dieser Stelle einfach nicht gerecht werden. Wenn wir aus der Vergangenheit eines gelernt haben sollten, dann das: Krisen in größerem Ausmaß, sei es die globale Finanzkrise oder die Eurokrise, haben immer extrem komplexe Ursachen und viele Verursacher. Überschriften wie die des oben erwähnten Capital-Artikels („Die wahren Gründe für den Kurssturz“) sind so ziemlich das Letzte, was in dieser Situation angebracht ist.

Vielleicht stammt der passendste Satz, der die Börsenturbulenzen der vergangenen und vermutlich auch der kommenden Wochen beschreibt, in dem leicht abgewandelten Werbeslogan eines Berliner Shoppingtempels, mit dem Synchronsprecher Ingo Albrecht seit Jahren Radiohörer in der Hauptstadt penetriert: „(Einfach) erklären… kann man das nicht.“ Und einfache Lösungen gibt es dementsprechend leider auch nicht.